«Es scheint im Moment wichtiger zu sein, einen Schuldigen zu finden, als die Wahrheit ans Licht zu bringen», sagt Isabella Eckerle, Virologin und Direktorin des Zentrums für neu aufkommende Viren am Universitätsspital Genf. Eckerle ist eine von zahlreichen Forschenden, die der Meinung sind, dass wissenschaftliche Untersuchungen zu den Ursprüngen von Covid-19 durch politische Motive und Entscheide behindert werden.

Der Schweizer Virologe Didier Trono von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) befürchtet, dass «wir nie erfahren werden, was wirklich passiert ist.» Er sagt: «Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir wegen der wissenschaftlichen Hürden und politischen Implikationen keine endgültigen Antworten erhalten werden.»

Dabei seien diese Antworten für die Vorbeugung und das Management zukünftiger Pandemien sehr wichtig. Zum jetzigen Zeitpunkt mache sicherlich die Hypothese, dass das Virus von einem Tier auf den Menschen übertragen wurde, «am meisten Sinn», räumt Trono ein. 

Fehlende Transparenz

Die Suche nach den Ursprüngen von Covid-19 steckt voller Komplexitäten und Kontroversen. China habe sich nie vollständig kooperativ und transparent gezeigt und den Zugang zu Daten und Proben eingeschränkt, kritisierte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Im vergangenen Januar und Februar sandte die Weltgesundheitsorganisation ein Team von Forschenden nach Wuhan, um Nachforschungen vor Ort anzustellen. Das Team verbrachte jedoch die ersten 14 Tage in Quarantäne und konnte sich in dieser Zeit nur per Videochat mit chinesischen Forschenden austauschen. Damit verblieben nur zwei Wochen für Untersuchungen, die jedoch aufgrund der notwendigen Überwachungen und Distanzregeln alle im Voraus geplant worden waren.

Trotz der schwierigen Zusammenarbeit mit der chinesischen Regierung verwarf die WHO in ihrer globalen Studie über den Ursprung von Sars-CoV-2 die Hypothese des Laborunfalls. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnete sie aufgrund unvollständiger Daten als «extrem unwahrscheinlich».

Ghebreyesus räumte allerdings später ein, dass die Hypothese voreilig vom Tisch gewischt worden sei. Und der dänische Wissenschaftler Peter Ben Embarek, der die WHO-Untersuchung in China geleitet hatte, erklärte, dass chinesische Beamte ihn dazu gedrängt hätten, die Laborunfall-Version fallen zu lassen.

Nach diesen Enthüllungen und den unvollständigen Daten der Studie kritisierten mehrere WHO-Mitgliedstaaten – darunter die USA, Grossbritannien, Kanada und Australien – die WHO scharf. Auch die Wissenschaftsgemeinde meldete sich zu Wort. Eine Gruppe von 17 Forschenden aus der ganzen Welt – darunter Richard Neher von der Universität Basel – forderten im Mai in einen Brief, der im Fachblatt Science veröffentlicht wurde, eine objektivere und transparentere Untersuchung zu den Ursprüngen von Covid-19.

Im Schreiben argumentierten sie, dass die beiden Theorien «Tier-Übertragung» und «Laborunfall» nicht gleichwertig behandelt worden seien. «Wir müssen beide Hypothesen ernst nehmen, bis wir genügend Daten haben», sagt Neher.

Die Zeit drängt

Die WHO-Studie identifizierte vier mögliche Wege, auf denen das Virus vom mutmasslichen Ursprungstier, der Hufeisenfledermaus, zu uns gelangte:

  1. direkte zoonotische Verbreitung (von Fledermäusen direkt auf den Menschen; gilt als wahrscheinlich)
  2. Einschleppung über einen Zwischenwirt (von Fledermäusen auf ein anderes Tier und dann auf den Menschen; gilt als sehr wahrscheinlich)
  3. die Nahrungskette (möglich)
  4. oder ein Laborunfall (extrem unwahrscheinlich).

Die Zwischenwirt-Hypothese gilt als sehr wahrscheinlich, weil zwar ein bekanntes Fledermaus-Coronavirus existiert, das genetisch eng mit Sars-CoV-2 verwandt ist, die beiden Viren aber zeitlich mehrere Jahrzehnte voneinander entfernt sind. Dies würde gemäss WHO-Bericht auf ein «fehlendes Bindeglied» hindeuten – ein Tier, das einer anderen Spezies angehört und als «Brücke» zwischen Menschen und Fledermäusen fungierte. Schuppentiere, Nerze oder Zibetkatzen kommen am ehesten in Frage, da sie für Coronaviren empfänglich sind.

«Vielleicht wird man nie Genaueres herausfinden», sagt Eckerle und fügt hinzu, dass die Suche nach dem Ursprung eines Virus schwierig und zeitaufwändig sei. «Bis die Suche abgeschlossen ist, könnte die Population des Wirtstiers bereits ausgestorben sein», so die Virologin.

Im Falle des Sars-Ausbruchs von 2002-2004 benötigten Forschende rund vier Monate, um Zibetkatzen als Zwischenwirt zu identifizieren, aber über zehn Jahre, um die Population von Hufeisenfledermäusen zu finden, die alle genetischen Bausteine des Virus beherbergte. Die Tiere lebten in einer einzigen, abgelegenen Höhle. Eckerle ist nicht überrascht, dass der WHO-Bericht angesichts der Komplexität der Untersuchung keine schlüssigeren Erkenntnisse über den Ursprung von Sars-CoV-2 liefert.

Klar ist aber, dass viele der derzeit zirkulierenden Viren auf Zoonosen zurückzuführen sind, also auf Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden und umgekehrt. Es ist ein Phänomen, das aufgrund der Störung der Lebensräume von Tieren durch den Menschen, etwa durch Abholzung oder Nutztierhaltung, weiter zunehmen wird. Zwischenfälle im Labor seien dagegen selten, sagt Eckerle. Sie habe in ihrer zehnjährigen Laufbahn noch nie einen solchen Unfall erlebt.

«Es ist viel einfacher, einen Sündenbock zu suchen, damit wir uns nicht eingestehen müssen, dass wir und unsere Lebensweise womöglich einen grossen Beitrag zur Pandemie geleistet haben», ergänzt sie.

Neher, der den Brief in Science mitverfasste, sagt ebenfalls, dass Virenausbrüche eher durch Zoonosen ausgelöst werden, zugleich weist er darauf hin, dass es schon früher zu Laborunfällen gekommen sei.

«Angesichts des Umstandes, dass es in Wuhan ein Labor gibt, das sich mit Coronaviren befasst, dürfen wir diese Möglichkeit nicht ausschliessen», argumentiert der Experte. Das Wuhan Institute of Virology (WIV) ist eine von zahlreichen Einrichtungen weltweit, die sich mit der Erforschung der hochsensiblen Coronaviren beschäftigen und eine Datenbank mit Virusproben und -sequenzen unterhalten.

Laut dem Bericht eines US-Geheimdienstes suchten drei Forschende des Wuhan-Instituts im November 2019 ein Spital auf, nachdem sie an einer grippeähnlichen Krankheit erkrankt waren. Diese Informationen zufolge hätten sich die Mitarbeitende aufgrund fehlerhafter Schutzausrüstung oder unzureichender Sicherheitsmassnahmen mit dem Virus infiziert. Anschliessend, so die Theorie, wurde das Virus in Wuhan freigesetzt und verbreitet. Das WIV hat jedoch keine Unterlagen veröffentlicht, die bestätigen oder widerlegen würden, dass sich tatsächlich Mitarbeiterende des Labors mit dem Virus infiziert hatten.

Die Theorie der undichten Stellen könnte verworfen werden, wenn der Zwischenwirt gefunden würde, sagt Neher. Er betont jedoch, dass bislang trotz intensiver Suche «kein eng verwandtes Virus gefunden wurde».

Interessenskonflikte und verdächtige Genome

Ist ein Laborleck für die Freisetzung des Covid-19-Virus verantwortlich? Forschende verlangen nach mehr Transparenz und Aufklärung und verweisen dabei auch auf Interessenskonflikte. Besonders auffällig ist die Anwesenheit von Peter Daszak, dem Präsidenten der EcoHealth Alliance in New York, im «unabhängigen» Expertenrat der WHO. Dieses Gremium wurde für die Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation nach Wuhan entsandt.

Die Unabhängigkeit von Daszek wird jedoch angezweifelt. Denn die EcoHealth Alliance hatte die Forschungen von Shi Zheng-li, einer der führenden Wissenschaftlerinnen des Wuhan Institute of Virology, zu den Coronaviren finanziert. Und Daszak unterzeichnete einen Brief von Forschenden, der gleich zu Beginn der Pandemie im medizinischen Fachjournal The Lancet veröffentlicht wurde. Darin wird die Hypothese des Laborunfalls verurteilt, und andere Forschende werden dazu angehalten, sich ebenfalls von dieser Theorie zu distanzieren.

Es existierten weitere Punkte. Pascal Meylan, Infektiologe und Honorarprofessor an der Universität Lausanne, bezeichnet ein bestimmtes Merkmal des Coronavirus als «verdächtig». Dies lege nahe, dass das Virus manipuliert wurde, bevor es versehentlich freigesetzt wurde.

«Sars-CoV-2 verfügt nicht nur über eine Spaltstelle im Spike-Protein für Furin, ein proteinspaltendes Enzym, das auf der Oberfläche menschlicher Zellen vorkommt», sagt Meylan, «sondern es kodiert auch zwei Arginin-Aminosäuren unter Verwendung des Nukleotid-Codons CGG-Tripletts. Dieses Triplett wird von menschlichen Zellen bevorzugt, kommt aber in Coronaviren von Fledermäusen selten vor.»
Diese beiden Merkmale würden darauf hindeuten, dass das Virus im Labor, unter Verwendung von menschlichen Zellen und so genannten «humanisierten» Mäusen, manipuliert wurde. Während viele auf Coronaviren spezialisierte Fachkräfte diese These mit dem Hinweis verwerfen, dass mehrere Varianten der mit Sars verwandten Coronaviren Furin-Spaltstellen besitzen, bezeichneten andere sie als «smoking gun». «Es ist kein Beweis, aber es ist etwas verdächtig, dass diese zwei typisch menschlichen Arginin-Codons in der Mitte von typischen Coronavirus-Codons existieren», sagt Meylan.

Dieser Text erschien zuerst bei swissinfo.
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