Lesehilfe: In kursiv sind Ergänzungen von higgs-Gründer Beat Glogger.

Molekulare Grundlagenforschung spielt in der Klinik eine wesentliche Rolle, um infektiöse Prozesse zu entschlüsseln, therapeutische Strategien zu entwickeln und Ärzte, Pflege- und anderes Spitalpersonal bei der Umsetzung der effektivsten Anwendung neuer Erkenntnisse anzuleiten.

Ali Shilatifard

Biochemiker, Molekularbiologe

Ali Shilatifard ist Direktor des Simpson Querrey Centers für Epigenetik an der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago (USA). Sein Text erschien in englischer Originalversion am 21. 4.2020 In Nature Advances und steht Redaktionen zur Weiterverbreitung frei zur Verfügung.

Die jetzt täglich stattfindenden Medienkonferenzen von Forschenden und der Behörden veranschaulichen die Bedeutung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als wichtige Partner in Pandemie-Arbeitsgruppen, die Politiker bei gesundheitspolitischen Entscheidungen leiten.

Die molekulare Grundlagenforschung spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, der Welt bei der Überwindung der aktuellen Pandemie und der Vorbereitung auf die nächste zu helfen.

Die erste Anwendung der molekularen Grundlagenforschung auf Covid-19 war die schnelle Entschlüsselung des Erbgutes des Sars-CoV-2-Virus mit einem Verfahren, das «Next-Generation-Sequencing» (NGS) genannt wird. Die daraus hervorgegangenen Daten lieferten der wissenschaftlichen und klinischen Gemeinschaft sofort Einblick in die einzigartigen Eigenschaften dieses Coronavirus-Stammes. NGS kann an einem einzigen Tag Milliarden von DNA-Identifizierungen liefern. Bei früheren Pandemien, zum Beispiel Sars im Jahr 2002, war dieser Prozess noch nicht entwickelt. Heute ist NGS eine nahezu allgegenwärtige Technologie, die sich durch die Forschung von Biochemikern, Molekularbiologen und Ingenieuren entwickelt hat, die durch Zuschüsse von öffentlich geförderten Institutionen wie den U.S. National Institutes of Health (NIH), dem National Cancer Institute (NCI) und ihren Pendants auf der ganzen Welt, in der Schweiz der Nationalfonds, unterstützt wurden.

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Die zweite wichtige Anwendung der molekularen Grundlagenforschung auf Covid-19 war die Entwicklung eines Testverfahrens zur Identifizierung infizierter Personen. Die Methode der Wahl für den hochempfindlichen Nachweis des Virus bei Menschen ist die reverse Transkription, gefolgt von der Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR), die sich die von NGS zur Verfügung gestellte virale Genomsequenz zunutze macht. Eine Schlüsselkomponente dieses Verfahrens ist ein Enzym namens «reverse Transkriptase», welches das virale RNA-Genom in ein DNA-Molekül umwandelt, das dann vervielfältigt und nachgewiesen werden kann. Für die Entdeckung dieses Enzyms wurden Howard Temin und David Baltimore 1975 mit einem Nobelpreis ausgezeichnet. Obwohl die Methoden dann von privaten Firmen fertig entwickelt worden sind, basierte ein Grossteil davon auf öffentlich finanzierter molekularer Grundlagenforschung. Die grundlegendste aller Entdeckungen dafür hat der Schweizer Mikrobiologe und Genetiker Werner Arber gemacht. Er fand jene Werkzeuge, die die Gentechnik erst möglich machten: die Restriktionsenzyme, ein Art Genschere. Für deren Entdeckung wurde Arber 1978 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt.

Die Entwicklung von Covid-19-Therapeutika erfordert ein tiefes Verständnis der molekularen Prozesse, die am Lebenszyklus des Virus beteiligt sind. Antivirale Therapien sind erforderlich, um Patienten mit leichten bis mittelschweren Symptomen zu behandeln. Zusätzliche Therapien sind für Covid-19-Patienten erforderlich, denen im kritischen Stadium Atemversagen, septischer Schock und Multiorgan-Versagen droht.

Angesichts der Tatsache, dass Sars-CoV-2 zur Familie der RNA-Viren gehört, sind die Forschenden gut positioniert, um mit der Entwicklung antiviraler Therapien zu beginnen. Denn die Biochemiker verfügen über eine Fülle molekularer Informationen über die atomaren Strukturen des Hauptenzyms, das für die Vervielfältigung des Virus wichitg ist, die RNA-abhängige RNA-Polymerase. Mit diesem Wissen wurde bereits das Medikament Remdesivir entwickelt, das die virale Replikation stört. Mit dem Medikament laufen gegenwärtig klinische Studien, und die ersten Ergebnisse sind ermutigend.

Auch für die Behandlung der entzündlichen Prozesse, die im Körper nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 auftreten, hat die Grundlagenforschung in der Immunologie den Weg für die Entwicklung mehrerer Therapien geebnet- Darunter sind Substanzen, die an den Zellen Rezeptoren blockieren, an denen ein Stoff namens Interleukin-6 (IL-6) andocken und so Entzündungen auslösen. Sind die IL-6-Rezeptoren blockiert, können Schäden an Geweben und Organen verhindert werden.

Das letztendliche Ziel bei der Behandlung aller Virusinfektionen ist die Entwicklung einer Immunität, sei dies durch eine Infektion oder eine Impfung. Um potenzielle Pandemien mit der geringsten Zahl von Todesopfern bewältigen zu können, müssen die Forscher Impfstoffe entwickeln, die innerhalb weniger Monate nach dem Auftreten eines neuen Virus in einer Grösenordnung von Hunderten von Millionen Dosen in Massenproduktion hergestellt und rasch weltweit verbreitet werden können. Herkömmliche Impfstoffe verwenden entweder aktive oder geschwächte Viren oder Viruspartikeln als Mittel zur Erzeugung der Immunantwort. Die Verwendung von abgeschwächten und zerstörten Viruspartikeln als Impfstoffe ist hochwirksam, aber die Herstellung von Impfstoffen ist sehr schwierig.

Schneller geht es mit Impfstoffen, die auf gentechnischen Methoden basieren. Einige solche befinden sich in der klinischen Erprobung für Covid-19. In diesem Fall schuldet die Menschheit den Biochemikern Paul Berg, Walter Gilbert und Frederick Sanger und ihren Kollegen Dank für ihre mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Grundlagenforschung zur Entwicklung gentechnischer DNA-Technologien. Auch ihre Arbeit war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Finanzierung durch Regierungsstellen in den USA und Großbritannien. Sie ermöglicht heute die Entwicklung von RNA- und DNA-Impfstoffen und vieler anderer lebensrettender Medikamente, die sich diese revolutionäre Technologie zunutze machen.

Wenn sich der Staub der Covid-19-Pandemie gelegt hat, hoffe ich, dass die Gesetzgeber überall auf der Welt die Abhängigkeit unserer Gesellschaft von einer gründlichen, methodischen Wissenschaft und den von ihr bereitgestellten Medikamenten erkennen und sich fragen, wie viele Menschen ohne die modernen Methoden, die aus der oben beschriebenen molekularen Grundlagenforschung hervorgegangen sind, noch an Covid-19 hätten sterben können. Die aktuelle Corona-Pandemie sollte eine Erinnerung daran sein, dass eine gesunde Investition in wissenschaftlichen Institutionen lebensrettend sein wird, wenn zukünftige Pandemien auftreten.

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