Wir freuen uns schon heute auf morgen, daher ist Warten manchmal süss. Das Warten wird sogar zu einem Ersatzgenuss eigener Art. Sigmund Freud nennt das «Vorlust». Kluge Eltern erzählen dem Kind vom kommenden Geburtstagsfest, so kultivieren sie Vorfreude. Der Genuss der Vorfreude macht geduldig. Menschen, die keine Vorfreude kennen, sind oft reizbarer als andere und langweilen sich rasch. Die Vor-Lustigen und Vor-Freudigen sind in der Lage, das erwünschte Ereignis besonders zu schätzen. Das ist Glanz auch in der kleinsten Hütte, es kostet nichts und ist nachhaltig.

Das Warten oder – wissenschaftlich gesprochen – der Gratifikationsaufschub ist ein Vergnügen eigener Art. So zeigt unter anderem die empirische Konsumforschung: Wer sich morgen gönnt, was er heute schon geniessen könnte, verlängert und steigert das Vergnügen. Vorfreude ist in der Markt- und Konsumforschung und in der Positiven Psychologie ein Schwerpunktthema. Fred B. Bryant und Joseph Veroff lieferten bereits 2006 eine Standortbestimmung in Buchform, sodann folgte ein Forschungsprogramm zum geniessenden Umgang mit positiven Erwartungen. Auch die Wissenschaftspublizistik berichtet längst darüber. Warten wird in der Vorfreude, im genussvollen Erwarten erträglich oder sogar zu einer positiven Qualität. Und es soll Leute geben, die im Freundeskreis von der geplanten Ferienreise schwärmen, sie herrlich ausmalen – und dann auf die Reise verzichten: Sie haben gleichsam die Höhepunkte in der imaginativen Vorwegnahme schon genossen.

Man bleibt ein Leben lang darauf angewiesen, negative Erregung und unlustvolle Spannung durch wunscherfüllende Vorstellungen in der Fantasie zu mildern. Diese heilsame und segensreiche Fantasietätigkeit ist im stillen Kämmerlein wirksam und verschafft der Person eine vorübergehende Aufhellung ihrer Verfassung, die negative Erregung dämpft. Wer nicht gut lebt, kann vorläufig Bilder erfreulichen Lebens geniessen.

Hedonische Hotspots

Morten Kringelbach und Kent Berridge machen in ihren Ausführungen zur «Neuroanatomy of Pleasure» darauf aufmerksam, dass viele «hedonic hotspots» im Gehirn existieren, wobei man zwischen tiefliegenden Strukturen (ventrales Pallidum, Nucleus accumbens und Hirnstamm) sowie neokortikalen Arealen (orbitofrontal, cingulär, präfrontal-medial und insuläre Areale) unterscheiden kann. Die beiden Autoren sind führende Repräsentanten der neurowissenschaftlichen Forschung zu hedonischen Funktionen des Geistes. Grosse Bedeutung hat unter anderem auch das neokortikale Default-Netzwerk; mehr im Überblick zur Psychoanalyse des Wunsches im Kontext neurowissenschaftlicher Forschung in Georg Schönbächler und Kollegen.

Es handelt sich um eine Geistestätigkeit in Musse. Der Genuss wunscherfüllender Situationen in der Fantasie kann selbstgenügsam sein. Vorfreude ist die schönste Freude, heisst es. Doch Wünsche können Wirklichkeit werden. Erich ist still verliebt. Auf einmal spricht die Traumfrau ihn an. Nun muss Erich etwas ganz Neues tun. Er muss sich über die wirkliche Frau freuen! Das ist gar nicht so einfach, schon gar nicht auf Dauer, Enttäuschung kann sich einstellen. Daher gehört zum Liebesglück, dass wiederum die Fantasietätigkeit eine Rolle spielt, und zwar als Werk des Verklärens und Idealisierens.

Wer verliebt ist und erhört wird, muss sich einerseits auf die wirkliche Person einlassen (mit Desillusionierungsrisiko), aber andererseits den imaginativ-kreativen Genuss des verklärten Wonnewesens zelebrieren (über längere Zeit). Wunschvorstellungen sind äusserst hilfreiche Alltagsillusionen.

Brigitte Boothe

Diplom-Psychologin

Brigitte Boothe ist Diplom-Psychologin und emeritierte Professorin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse an der Universität Zürich. Sie ist heute in der Gemeinschaftspraxis Bellevue tätig.

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