Die Menschenrechtsorganisation «Public Eye» sowie die Hilfsorganisation «Ärzte der Welt» haben Anfang Juli dieses Jahres beim Europäischen Patentamt in München Einspruch erhoben gegen das Novartis-Patent auf «KymriahR». Dieses «Medikament» der Firma Novartis ist auch in der Schweiz zugelassen. Die Kriterien dabei sind eng. Die Zulassung gilt für die Behandlung von Patienten mit zwei speziellen Formen von bösartigen Blutkrankheiten unter definierten Voraussetzungen.

Alois Gratwohl


Alois Gratwohl ist emeritierter Professor für Hämatologie und Stammzelltransplantation der Universität Basel.

Weshalb der Einspruch?

Für die Herstellung des Medikaments werden betroffenen Patienten und Patientinnen Lymphozyten aus ihrem Blut entnommen. Die Zellen werden anschliessend im Labor aufbereitet und so genetisch verändert, dass sie die Blutkrankheit erkennen können. Nach der Rücktransfusion können die Zellen gezielt den Tumor angreifen und im Idealfall eliminieren. Der Patient, die Patientin ist geheilt: ein innovatives und vielversprechendes Konzept. Das gleiche Prinzip kann auf andere Tumoren angewandt werden. Mehrere Medikamente sind in verschiedenen Phasen der Entwicklung; so könnte in naher Zukunft eine Vielzahl von Krebsformen behandelt werden. Weshalb also der Einspruch?

Der Widerruf schliesst sich bisherigen, erfolgreichen Einsprüchen gegen Patente auf Medikamente aus menschlichen Zellen an. Greenpeace wehrte sich im Jahr 2011 erfolgreich gegen die Patentierung von neuronalen embryonalen Stammzellen. Das Gericht stützte sich auf den Entscheid der Europäischen Menschenrechtskonvention: «der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die blosse Entdeckung eines seiner Bestandteile, einschliesslich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, können keine patentierbaren Erfindungen darstellen.»

Die Europäische Gruppe für Stammzelltransplantation hatte sich bereits im Jahr 1999 gegen ein Patent auf Nabelschnurblut zur Stammzelltransplantation gewehrt. Sie konnte aufzeigen, dass das zu schützende Konzept vor Einreichung des Patentes von anderen beschrieben worden war. So richtet sich der Einspruch gegen KymriahR nicht gegen das Medikament an sich. Public Eye und Ärzte der Welt bezweifeln hingegen den Anspruch von Novartis auf Innovation. Die einzelnen Schritte zur Herstellung seien vorher schon beschrieben worden.

Grundsätzliche Fragen

Der Einwand greift jedoch tiefer und wirft grundsätzliche Fragen der modernen personalisierten Medizin auf. Das Argument, Patente seien für den medizinischen Fortschritt unabdingbar, ist auf dem Gebiet der zellulären Therapien nicht stichhaltig. Die moderne Transfusions- und Transplantationsmedizin zeigt eindrücklich, dass Erfolg und Fortschritt ohne Patente auf Organen oder Zellen erreicht werden kann. Freier, wenn nötig kontroverser Daten- und Meinungsaustausch auf nationaler und internationaler Ebene haben dazu beigetragen. Offene Information auch über Fehler und Irrungen ist einer der Hauptgründe für das Vertrauen in die Transplantation von Blutstammzellen auf globaler Ebene. Sie steht auch exemplarisch für ein bewährtes Konzept zellulärer Therapien.

KymriahR dient gerne als Modell für die personalisierte Medizin, «precision medicine» im angelsächsischen Gebrauch: ein Medikament, spezifisch hergestellt und zugeschnitten auf einen einzigen Empfänger oder eine einzige Empfängerin. Diese Einzigartigkeit, auch anderer im Rahmen der personalisierten Medizin eingesetzten «gezielten Therapien» diente lange als Begründung für einen besonderen Schutz von Medikamenten bei seltenen Erkrankungen. Nur, Einzigartigkeit ist nicht neu. Auch bei der Stammzelltransplantation gilt seit ihrer Entwicklung vor über fünfzig Jahren, dass ein Spender oder eine Spenderin für einen definierten Empfänger oder Empfängerin ausgewählt wird, abhängig der HLA-Gewebsantigene. Neu ist das Konzept Einzigartigkeit nicht, neu sind die extrem hohen Preise.

Politik und Gesellschaft dürfen nicht mehr zuschauen

Die Gründe dafür sind nicht nachvollziehbar. Es ist unverständlich, dass Politik und Gesellschaft solange schon zuschauen und diese Entwicklung zulassen. Die Bedrohung des gesamten Gesundheitswesens, die dadurch entsteht, wird noch zu wenig wahrgenommen. Die Hoffnung der personalisierten Medizin, bei angeborenen wie erworbenen Krankheiten mit genetischen Veränderungen durch gezielte Medikamente Heilung zu bewirken, riskiert, verloren zu gehen. Der ursprüngliche Anreiz, Medikamente bei seltenen Krankheiten besonders zu schützen und deren Entwicklung so zu fördern, wird missbraucht. «Orphan-Drugs» – also Arzneimittel, die für die Behandlung seltener Krankheiten eingesetzt werden, sind heute keine Waisen mehr, eher wahre Goldgruben. Die grosse Sorge, dass ohne Gegenmassnahmen das Gesundheitswesen zu kollabieren droht, wurde erst kürzlich im renommierten New England Journal of Medicine geäussert.

Der Forschungsaufwand ist ebenso wenig eine Begründung wie die Einzigartigkeit. Novartis hat KymriahR nicht entwickelt, sondern gekauft. Der grosse Teil der Forschung für die personalisierte Medizin erfolgt in der durch Steuergelder finanzierten Grundlagenmedizin. Herbeigezogen ist das Argument, dass Betroffenen mit seltenen Krankheiten viele zusätzliche Lebensjahre geschenkt werden können; dies sei den Preis wert. Ausgeklammert wird, dass moderne personalisierte Medizin eine Teamarbeit und nicht der Erfolg einer einzelnen Person oder einer einzelnen Massnahme ist. Ohne Kompetenz im komplexen Grundwissen und der Diagnostik, ohne multiprofessionelles Behandlungsteam in adäquater Infrastruktur sind gezielte Krebstherapien sinnlos, wertlos, wenn falsch eingesetzt sogar tödlich. Mit der Begründung der «gewonnen Lebensjahre» sollte somit zusätzlich zum Medikamentenpreis das fünf- oder zehnfache für die notwendige Langzeitbetreuung ab Diagnose verlangt werden.

Auch Universitäten sollten ihre Politik überdenken

Bedrohend für das Gesundheitssystem ist, dass Hersteller entscheiden sollen, durch wen und unter welchen Voraussetzungen diese modernen komplexen Therapien verabreicht werden sollen. Nicht alle Patientinnen und Patienten profitieren von den gleichen Therapien. Unabhängige, und unabhängig qualifizierte Kompetenzzentren mit genügender Erfahrung müssen die Behandlung leiten. Das Prinzip hat sich in der Stammzelltransplantation bewährt. Es darf nicht sein, dass die Pharmaindustrie den Einsatz und damit auch die Datenlage diktiert. Es benötigt unabhängige langfristige Kontrollen über Erfolg und Misserfolg.

Ein Ausweg aus dem aktuellen Trend ist nicht einfach, unabhängig von der Patentfrage, aber dringend notwendig. Politik und Gesellschaft sind gefordert, auf allen Ebenen, national und international. Gezielte Medikamente sind notwendig in der Zeit der personalisierten Medizin. Sie gehören gefördert, Instrumente wie «coverage with evidence developement» (Vergütung unter der Pflicht einer Registerführung) wären vorhanden. Den kartellartigen, massiven Preisforderungen auf Medikamente gehört Einhalt. Das Prinzip, keine Patente auf menschlichen Zellen und Organen, soll aufrechterhalten werden. Universitäten sollten ihre Politik überdenken: ist der Allgemeinheit bei einer durch öffentliche Gelder finanzierten Neuentdeckung mehr gedient durch Patente, oder durch offene Anwendung? Bund und Kantone müssen dringend die Koordination in die Hand nehmen, damit Kompetenz mit genügenden Fallzahlen für die individuellen Therapien gewahrt wird.

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