Das musst du wissen

  • Am 27. September 2020 stimmt die Schweiz über die Begrenzungsinitiative der SVP ab.
  • Die Annahme der Initiative würde den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU beenden.
  • Die Covid-19-Pandemie führt aber dazu, dass die Bürger keine Destabilisierung der Beziehungen zur EU wollen.

Die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative war ursprünglich für Mai 2020 geplant. Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde sie jedoch auf den September 2020 verschoben. Was bedeutet das für die Erfolgschancen der Initiative? Hat die Pandemie die Annahme der Begrenzungsinitiative wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher gemacht?

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Aus theoretischer Sicht ist der Einfluss der Corona-Krise auf das Abstimmungsverhalten unklar. Die Pandemie hat nationalistische Trends weltweit verstärkt, die Gesundheitsrisiken des grenzüberschreitenden Personenverkehrs offengelegt, aber auch die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung demonstriert. Gleichzeitig wurde die Schweizer Wirtschaft deutlich geschwächt, was die Risiken einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen für Schweizer Unternehmen und Arbeitnehmende erhöht.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Einstellung zur Begrenzungsinitiative aus?

Umfragen des Meinungsforschungsinstituts gfs Bern im Auftrag der Universität Zürich haben ergeben, dass die Gegnerschaft der Begrenzungsinitiative während der Corona-Krise leicht zugelegt hat. Im Mai 2020 gab eine Mehrheit von 62,4 Prozent der Befragten an, sicher oder wahrscheinlich gegen die Begrenzungsinitiative stimmen zu wollen, während sich von denselben Personen im Herbst 2019 noch 59,7 Prozent gegen die Initiative ausgesprochen hatten.

Die überwiegende Mehrheit der Befragten hat ihre Abstimmungsabsicht im Verlauf der Corona-Krise allerdings nicht geändert. Von denjenigen, die im Herbst sicher für die Initiative stimmen wollten, sprachen sich im Mai noch knapp drei Viertel weiterhin sicher dafür aus. Dagegen blieben 91 Prozent der erklärten Gegner der Initiative dabei, dass sie sicher gegen die Begrenzungsinitiative stimmen würden. Bei denjenigen, die im Herbst noch keine feste Meinung hatten, zeichnet sich insgesamt eher ein Trend gegen die Initiative ab.

Science-Check ✓

Studie: Analyse im Rahmen des Projekts Health2040KommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie empirischen Analysen basieren auf einer Online-Panelbefragung, die im Rahmen des Forschungsprojekts «The Mass politics of disintegration» der Universität Zürich von gfs.bern durchgeführt wird. Die deskriptiven Ergebnisse sind gewichtet, um den Unterschieden bezüglich Bildungsniveau und Parteizugehörigkeit zwischen unserer Stichprobe und der Schweizer Stimmbevölkerung Rechnung zu tragen. Es zeigen sich jedoch lediglich Korrelationen – Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ansichten können nur vermutet werden.Mehr Infos zu dieser Studie...

Insgesamt hat die Corona-Krise die öffentliche Meinung in Bezug auf die Begrenzungsinitiative also nicht dramatisch verändert, doch sie hat die Ablehnung des Volksbegehrens etwas wahrscheinlicher gemacht.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung?

Die Daten aus der Befragung ermöglichen es, die Mechanismen für diese Entwicklung genauer zu untersuchen. Welche Auswirkungen hatte die Covid-19-Pandemie auf Einstellungen betreffend Einwanderung, internationaler und insbesondere europäischer Zusammenarbeit, wirtschaftliche Sorgen sowie auf die Zufriedenheit mit der Regierung?

Die Befragten werteten die Einwanderung im Mai 2020 insgesamt positiver als im Herbst 2019. Diese Einstellungsänderungen sind mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit verbunden, der Begrenzungsinitiative zuzustimmen.

Krisenbedingte Sorgen um die Wirtschaft

Anlässlich der Lancierung des Abstimmungskampfes gegen die Begrenzungsinitiative argumentierten sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften, dass die Annahme der Begrenzungsinitiative der durch die Covid-19-Pandemie bereits geschwächten Schweizer Wirtschaft weiteren Schaden zufügen würde. Teilt die Schweizer Stimmbevölkerung diese Sorgen?

Begrenzungsinitiative


Die Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» verlangt eine eigenständige Regelung der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern in die Schweiz ohne Personenfreizügigkeit. Sie verlangt vom Bundesrat, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU zu kündigen, falls es der Schweiz nicht gelingt, das Abkommen innert Jahresfrist auf dem Verhandlungsweg ausser Kraft zu setzen.

Die Umfragedaten zeigen, dass sich die Einschätzung der Wirtschaftslage in der Schweiz in den letzten Monaten eingetrübt hat. Während sich im November 2019 noch eine Mehrheit mit der wirtschaftlichen Situation in der Schweiz zufrieden zeigte, waren im Mai 2020 zehn Prozent sehr und über 25 Prozent eher unzufrieden mit der Wirtschaftslage — auch wenn sich, angesichts der Covid-19-Krise vielleicht überraschend, eine grosse Mehrheit der Befragten immer noch «eher zufrieden» zeigt.

Gleichzeitig sorgen sich 53 Prozent der Befragten über einen Verlust ihres Arbeitsplatzes. Befragte, die sich grössere Sorgen um den Verlust ihres Arbeitsplatzes machen, stehen der Begrenzungsinitiative grundsätzlich positiver gegenüber.

Allerdings zeigen die statistischen Analysen, dass Befragte, deren Sorge um ihren Arbeitsplatz seit dem Herbst gewachsen ist, moderater in ihrer Einstellung geworden sind. Diese Befragten sind nun im Schnitt weniger stark für die Initiative als noch im Oktober und November. Dies legt nahe, dass Befragte, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind, einen weiteren Schlag gegen die Schweizer Wirtschaft eher vermeiden wollen.

Covid-19 und die Bewertung von internationaler und europäischer Zusammenarbeit

Auch die Einstellung der Bevölkerung zu internationaler Kooperation im weiteren Sinne ist ein wichtiger Faktor im Kontext der Begrenzungsinitiative. Einerseits ist sich eine grosse Mehrheit der Befragten von achtzig Prozent einig, dass die durch die Covid-19-Krise verursachten medizinischen und wirtschaftlichen Probleme nur gelöst werden können, wenn alle Länder zusammenarbeiten. Diese Ansicht korreliert stark mit einer Ablehnung der Begrenzungsinitiative.

Andererseits sind die Befragten gegenüber der europäischen Zusammenarbeit und den international koordinierten Bemühungen zur Bewältigung der Krise skeptisch. Die Haltung zur EU hat sich im Vergleich zum Herbst 2019 nicht wesentlich verändert. Die Beurteilung der Krisenbewältigung durch die EU und die WHO fallen uneinheitlich aus, vor allem im Vergleich zur Corona-Strategie der Schweiz, die sehr positiv bewertet wird. Sowohl die positive Beurteilung der schweizerischen Corona-Strategie als auch des Umgangs der EU mit der Covid-19-Pandemie korrelieren mit einer höheren Ablehnung der Begrenzungsinitiative.

Das Schweizer Stimmvolk ist mit dem Bundesrat zufrieden

Die positive Bewertung der Schweizer Corona-Krisenstrategie spiegelt sich auch in einer deutlichen Zunahme in der Zufriedenheit mit der Regierung und der Demokratie im Allgemeinen wider.

Wenn die Zufriedenheit und das Vertrauen in den Bundesrat weiterhin hoch bleiben, könnte dies dem entschiedenen und einheitlichen Appell des Bundesrats für ein Votum gegen die Begrenzungsinitiative mehr Gewicht verleihen und den Druck auf die Initiative erhöhen.

Gleichzeitig spricht die gesteigerte Zufriedenheit der Befragten auch für eine grosse Unterstützung für den Status Quo. Die Annahme der Begrenzungsinitiative würde für diesen Status Quo eine grosse Herausforderung darstellen. Dies ist ebenfalls ein Faktor, der erklärt, warum die Unterstützung für die Initiative im Verlauf der Pandemie leicht nachgelassen hat. Vereinfacht gesagt deuten die Analysen darauf hin, dass die Schweizer Stimmberechtigten möchten, dass mit der EU alles so bleibt, wie es ist.

Eine starke Unterstützung für den Status Quo könnte jedoch an einem anderen Ort für Probleme zwischen der Schweiz und der EU sorgen: dem Rahmenabkommen. Auch dieses Abkommen bedeutet eine Abkehr vom Status Quo, wenn auch in Richtung einer verstärkten Zusammenarbeit. Die Umfrage zeigt, dass zwar eine Mehrheit der Befragten weiterhin das Rahmenabkommen befürwortet, dass aber der Anteil der Gegner im Vergleich zum Herbst 2019 leicht angestiegen ist. Die Zufriedenheit mit dem Status Quo führt also zu weniger Bereitschaft zur Vertiefung der Beziehungen Schweiz-EU.

Hier droht jedoch Ungemach. Die EU hat deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, den in der Schweiz so beliebten bilateralen Weg ohne ein Rahmenabkommen so weiter zu gehen wie bis anhin. Ohne ein Rahmenabkommen würden die bilateralen Verträge nicht mehr aufdatiert, sodass es im bilateralen Verhältnis zunehmend harzen würde. Der Status Quo ist in der Schweiz zwar sehr beliebt, langfristig aber keine Option mehr.

Doch dies ist eine Herausforderung für die Zukunft. Zunächst muss das bilaterale Verhältnis die Hürde der Begrenzungsinitiative bestehen. Hier sieht es momentan danach aus, dass die Covid-19-Pandemie eine ernsthafte Destabilisierung der Beziehungen Schweiz-EU eher zu verhindern hilft.

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