Die letzten Schweizer Parlamentswahlen brachten einen Rechtsrutsch: Sowohl die rechtspopulistische SVP als auch die rechtsliberale FDP konnten ihre Sitzanteile ausbauen, dagegen verloren die fünf anderen Parlamentsparteien allesamt Sitze im Nationalrat. Ist dieses Wahlergebnis tatsächlich Ausdruck eines Rechtsrucks in den Präferenzen der Bevölkerung? Wenn man berücksichtigt, dass die Schweizerische Parteienlandschaft nicht allein durch eine wirtschaftspolitische Konfliktlinie, sondern zusätzlich auch durch eine kulturelle Konfliktlinie gekennzeichnet ist, ist die Beantwortung dieser Frage komplexer.

Was ist eine Konfliktlinie?

Eine gesellschaftliche Konfliktlinie beschreibt ein dauerhaftes Streitthema, auf dem sich die immer gleichen Gruppen von Befürwortenden und Gegnern mit ihren Politikforderungen gegenüberstehen. Ein solches Streitthema ist zum Beispiel die Wirtschaftspolitik. Hier stehen sich traditionell die Einstellungen und Forderungen der Arbeiterschaft und der Unternehmer gegenüber.

Um die Wählerpräferenzen auf mehreren Konfliktlinien gleichzeitig zu analysieren, verwenden Politikwissenschaftler ein räumliches Modell: Man stellt sich einen zwei- oder mehrdimensionales Koordinatensystem vor, und jede politische Konfliktlinie bildet eine Achse. Nun können die Präferenzen der Wählerinnen als Koordinaten in diesem Raum dargestellt werden, jeder Punkt bezeichnet eine Meinung zu allen Konfliktlinien gleichzeitig.

In einem eindimensionalen Politikraum, der nur durch eine dominante Konfliktlinie gekennzeichnet ist, beispielsweise dem Gegensatz von linker und rechter Wirtschaftspolitik, würde man erwarten, dass das Wahlergebnis die Meinung der Medianwählerin beziehungsweise des Medianwählers widerspiegelt. Damit ist gemeint, dass die eine Hälfte der Wählerschaft links von diesem Medianwähler steht und die andere Hälfte rechts davon. Allerdings gilt das nicht in einem mehrdimensionalen Politikraum, in dem die wirtschaftspolitische Konfliktlinie beispielsweise durch eine kulturelle Konfliktlinie ergänzt wird, auf der sich liberale und konservative Ideale gegenüberstehen. In diesem Fall spiegelt das Ergebnis von Wahlen nicht zwangsläufig die Meinung der Medianwähler in den einzelnen Politikdimensionen wider. Im Gegenteil, in solchen Räumen herrscht meist Chaos mit dementsprechend viel Spielraum für politische Veränderungen.

Der Erfolg rechter Parteien

Eine der Auswirkungen: Der hohe Stimmenanteil rechter Parteien spiegelt die Wählerpräferenzen nur unzureichend wider. Das haben wir in unserer Analyse gezeigt. So spielen beispielsweise die wirtschaftspolitischen Haltungen der Wählerinnen und Wähler für ihre Entscheidung für eine rechte Partei kaum eine Rolle. Vielmehr ist der Wahlerfolg der Rechten die Konsequenz eines strukturellen Vorteils im zweidimensionalen Politikraum der Schweiz. Dieser enthält eine wirtschaftspolitische Politikdimension – sie betrifft den traditionellen Konflikt zwischen den Befürwortern einer Intervention des Staates in die Wirtschaft und den Anhängern einer liberalen Wirtschaftspolitik – und eine kulturelle Politikdimension, die den Gegensatz libertärer und konservativer Politik betrifft.

Der Vorteil entsteht, weil die Parteien nicht alle Winkel des Politikraums besetzen, sondern nur drei Bereiche: Linke Parteien (SP und Grüne) lassen sich im wirtschaftlich linken und kulturell liberalen Bereich verorten. Wirtschaftlich moderate und rechte Parteien hingegen bieten eine grössere Bandbreite an kulturellen Policies an, da sie ihre jeweilige Wirtschaftspolitik mit kulturell liberalen (FDP), moderaten (CVP) und konservativen (SVP) Haltungen kombinieren.

Von keiner Partei bedient wird der ökonomisch linke und kulturell konservative Bereich des Politikraums – obwohl dafür sehr wohl eine Nachfrage bestehen würde. Deshalb befinden sich Wählerinnen und Wähler in diesem Bereich des Politikraums in einer schwierigen Entscheidungssituation: Ihre wirtschaftspolitischen Präferenzen werden besser von linken Parteien repräsentiert, denen sie jedoch kulturell fern sind, während ihre kulturellen Präferenzen besser durch rechte Parteien vertreten wären, denen sie jedoch wirtschaftspolitisch fern stehen.

So sieht die Parteienkonfiguration im zweidimensionalen Politikraum aus. Oben links in der Grafik herrscht Leere: Eine kulturell konservative, aber wirtschaftspolitisch linke Haltung deckt keine Partei ab.zVg

So sieht die Parteienkonfiguration im zweidimensionalen Politikraum aus. Oben links in der Grafik herrscht Leere: Eine kulturell konservative, aber wirtschaftspolitisch linke Haltung deckt keine Partei ab.

Wie ihre endgültige Wahlentscheidung aussieht hängt also stark davon ab, welches Gewicht sie Wirtschaft und Kultur in ihrem Wahlkalkül beimessen. Überwiegen wirtschaftspolitische Themen, werden sie eher für eine linke Partei stimmen, hat Kulturelles ein stärkeres Gewicht, werden sie eher für eine rechte Partei stimmen.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Wählerinnen und Wähler erstens stärker dazu neigen, nicht zur Wahl zu gehen. Und zweitens, wenn sie zur Wahl gehen, stimmen sie eher für eine rechte Partei. Da keine Partei ihre kombinierten Interessen repräsentiert, müssen sie eine grössere Diskrepanz zwischen ihren Interessen und den Parteipositionen auf zumindest einer Dimension in Kauf nehmen.

Dabei legen solche Wählerinnen und Wähler grösseres Gewicht auf kulturelle als auf wirtschaftspolitische Präferenzen, wie unsere Analyse zeigt. Dies führt schlussendlich dazu, dass wirtschaftspolitisch linke und kulturell konservative Wählerinnen und Wähler den Entscheidungskonflikt häufiger zugunsten rechter Parteien lösen.

Verzerrtes Ergebnis

Man könnte meinen, dass dieses Phänomen dadurch ausgeglichen wird, dass wirtschaftspolitisch rechte und kulturell liberal eingestellte Wählerinnen und Wähler ebenfalls dazu neigen, stärker ihren kulturellen Präferenzen zu folgen und linke Parteien zu wählen. Dies ist jedoch aus zwei Gründen nicht der Fall. Erstens bieten die rechten Parteien zusammengenommen eine grössere Bandbreite an kulturellen Positionen an, so dass die Interessen des kulturell liberalen und wirtschaftspolitisch rechten Wählersegments trotzdem am besten von einer der rechten Parteien repräsentiert werden. Zweitens konnten wir schon früher zeigen, dass linke Parteien kulturelle Fragen in ihren Wahlprogrammen weniger betonen und weniger erfolgreich darin sind, Wählerinnen und Wähler auf Basis ihrer kulturellen Positionen zu gewinnen.

In der Konsequenz haben linke Parteien Schwierigkeiten, einen grossen Teil der wirtschaftspolitisch linken Wählerinnen und Wähler auf sich zu vereinigen, obwohl sie diesen wirtschaftspolitisch sehr nahe stehen. Rechte Parteien können hingegen mit der Unterstützung der wirtschaftspolitisch rechten Wählerinnen und Wähler rechnen, unabhängig von deren kulturellen Präferenzen. Zusätzlich erhalten sie die Unterstützung der wirtschaftspolitisch links eingestellten Wählerinnen und Wählern, die kulturell eher konservativ eingestellt sind. Dies hat bedeutenden Einfluss auf die parlamentarische Repräsentation der wirtschaftspolitischen Wählerpräferenzen und auf das Kräftegleichgewicht im Nationalrat.

Daten und Methode

Die Studie verwendet Daten der Selects Kandidatenbefragung und der Selects Nachwahlbefragung zur Schweizer Nationalratswahl 2015. Beide Umfragen beinhalten mehrere Fragen zur Einstellung zu wirtschaftspolitischen und kulturellen Themen:

zVg

Link zur Studie

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