Das musst du wissen

  • Psychische Belastungen oder finanzielle Probleme können eine Radikalisierung begünstigen.
  • Beim Ausstieg können ehemalige Extremisten hilfreich sein.
  • Strafverfolgung hingegen führt oft zu einer noch stärkeren Radikalisierung.
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Warum tritt jemand einer islamistischen Terrororganisation bei? Weshalb wollen manche Menschen Teil von rechtsextremen, rassistischen Gruppen werden? Und wie finden sie ihren Weg aus solchen radikalen Gruppen wieder heraus? Um das herauszufinden, haben Forschende des Think Tanks RAND aus den USA 32 Fälle von Radikalisierung genauer angeschaut und Gemeinsamkeiten in den Lebenswegen festgestellt. Die RAND Corporation ist ein unter anderem staatlich finanzierter Think Tank, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, um die Streitkräfte der USA zu beraten. Hier wird in institutionellem Auftrag geforscht – der Bericht spiegelt also eine offizielle, amerikanische Sicht auf die Problematik wider.

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Studie: Violent Extremism in AmericaKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Stichprobe ist klein, die befragten Radikalisierten sind allesamt ausgestiegen, es wurden keine Interviews mit weiterhin Radikalisierten geführt. Die Interviews waren zudem nicht einheitlich strukturiert, sondern wurden den Erlebnissen der Befragten angepasst. Die Ergebnisse lassen sich daher nicht verallgemeinern, können aber einen detaillierten Einblick in Einzelfälle geben.Mehr Infos zu dieser Studie...

Was Radikalisierung begünstigt, ist bereits in verschiedenen Studien betrachtet worden, welche die Wissenschaftler einbezogen. Bekanntermassen führen soziale Isolation, traumatische Erfahrungen, Drogen- oder Alkoholmissbrauch oder fehlende Familienstrukturen dazu, dass Personen empfänglicher sind für extreme Inhalte.

Die Wissenschaftler untersuchten nun die Biografien von 24 ehemaligen Rassisten und acht ehemaligen Islamisten in den USA genauer. Dafür sprachen sie mit 24 Betroffenen, zehn Familienmitgliedern und zwei Freunden von radikalisierten Personen. Sieben der Aussteiger konnten nicht interviewt werden, da sie verstorben, im Gefängnis oder anderweitig unabkömmlich waren. Zu den Organisationen, zu denen die Probanden einst gehörten, zählten Al-Qaida und der IS, aber auch der Ku-Klux-Klan, Neonazi-Gruppierungen und Suprematisten, welche an die Überlegenheit der Weissen glauben.

Die Radikalisierung

In den Gesprächen fanden die Forschenden heraus, dass auch bei diesen Ex-Radikalisierten gewisse Lebensumstände die Radikalisierung begünstigt hatten. Dazu gehörten finanzielle und psychische Probleme oder Ausgrenzung. In mehr als der Hälfte der Fälle begann die Radikalisierung aber erst nach einem einschneidenden Erlebnis. Das war – bei späteren Rassisten – die Ablehnung durch das Militär, der Suizid eines Freundes oder eine lange anhaltende Arbeitslosigkeit. Bei späteren Islamisten waren es demütigende Erlebnisse, nach welchen sie nach Läuterung suchten, wie zum Beispiel eine Anzeige wegen Waffenbesitzes, Sanktionierung durch die eigene Familie wegen nicht-religiösen Verhaltens oder ein Selbstmordversuch.

Alle diese Personen orientierten sich neu. Sie konsumierten Propaganda der extremistischen Organisationen, wobei vor allem für die rassistische Radikalisierung die Musik eine grosse Rolle spielte, und suchten teilweise selber den Kontakt zu den Organisationen. Nur sieben der Radikalisierten wurden durch die Organisationen rekrutiert.

Die Zeit in der radikalen Gruppe

In den radikalen Gruppen fanden die untersuchten Personen Halt, Freunde und in manchen Fällen ein Gefühl von Macht. Ein Interviewter sagte: «Die Leute wechseln die Strassenseite (vor Angst, Anm. d. Red), wenn sie dich sehen…das war ein grossartiges Gefühl.» Andere gingen in ihrer «Mission» auf: «Auch wenn die Hälfte der weissen Rasse nicht weiss, was du tust, in deinem Kopf rettest du sie. Du bist wie Superman und du tust etwas Gutes und Nobles.» Ähnlich erinnert sich ein ehemaliger Islamist: «Wir fühlten uns speziell. Wir fühlten uns auf der guten Seite. Es war alles sehr schwarz und weiss.»

Für manche war wichtig, dass sie in der neuen Gruppe Selbstbestätigung, eine neue Identität fanden: «Ich war plötzlich irgendwie legendär. In der echten Welt war ich nur ein Alkoholiker, einer, der von der Schule geflogen war und nun Drogen dealte, um die Rechnungen zu bezahlen und wieder zur Mutter ziehen musste. Einer, der die Tendenz hatte, zu trinken, bis er bewusstlos wurde und sich einnässte.»

Der Ausstieg

26 der 32 betrachteten Personen stiegen irgendwann aus. Die anderen sechs Personen sind bereits verstorben – teilweise in Jihadisten-Camps –oder nicht auffindbar. Wie bei der Radikalisierung, gibt es auch für die Deradikalisierung keinen Standardweg. Es gibt laut der Studie aber sogenannte Push- und Pull-Faktoren, die einen Ausstieg erleichtern oder erschweren. Aussteiger sind oft getrieben von einem Gefühl der Desillusionierung, Burn-Outs und Schwierigkeiten, ihren Job zu behalten. Hinderlich ist hingegen, dass die Aussteiger ihren sozialen Rahmen verlieren.

15 der 32 Radikalisierten fühlten sich jedoch nach einer gewissen Zeit desillusioniert. Ein ehemaliger Suprematist erzählt: «Wir waren da draussen und marschierten gegen illegale Einwanderer, die Drogen ins Land bringen – und gleichzeitig konsumierte ich illegale Drogen. Auch alle anderen konsumierten illegale Drogen. (…) Es schien mir alles immer heuchlerischer und es machte alles keinen Sinn mehr für mich nach einem Jahr oder so.» Andere hatten ein Burn-out durch den enormen Hass-Rausch, den sie in der Gruppe erlebten, wie ein anderer Interviewter ausführt: «So zu leben war für mich äusserst anstrengend. Erst nachdem ich ausgestiegen war, konnte ich wieder atmen. Der Feind lauerte nicht mehr überall. Wenn du aber mit dieser Haltung lebst, mit dieser kultartigen Mentalität, dann ist jeder dein Feind oder ein Verdächtiger.»

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22 der Radikalisierten verliessen ihre Gruppen mit der Hilfe von Einzelpersonen oder – bei der Hälfte – mittels Institutionen. Bei der Hälfte der untersuchten 32 Fälle waren zuvor Interventionen gescheitert. So führten Strafverfolgungsmassnahmen der Studie zufolge meist zu einer noch stärkeren Radikalisierung. Als der Ausstieg klappte, standen Individuen dahinter, die den Radikalisierten einen Einblick in ein anderes kulturelles Umfeld gaben, die ihnen zu familiärer oder finanzieller Stabilität verhalfen oder ihnen eine emotionale Stütze waren. Das konnten Familienmitglieder, Kinder oder Freunde sein, aber auch neue Bekanntschaften, Journalisten, Therapeuten oder religiöse Autoritäten. Bei den ehemaligen Rechtsextremen waren in sechs Fällen Aussteiger involviert. Manche stiegen auch wegen negativer Erlebnisse innerhalb der radikalen Gruppen aus.

Wo soll Prävention ansetzen?

Die Forschenden fragten die Aussteiger auch, wie eine erfolgreiche Prävention aussehen könnte. Die meisten betonten zunächst die Bedeutung der Kindheit und Jugend, sprachen sich für multikulturelle Bildung und soziale Strukturen wie Sportclubs aus. Auch müsse die Marginalisierung bestimmter Gesellschaftsschichten angegangen und der Zugang zu psychologischer Hilfe vereinfacht werden.

Ein Geheimrezept für Deradikalisierung gibt es aber nicht. Zwar besteht seit Jahrzehnten die Hypothese, dass Kontakt mit der vermeintlich verfeindeten Gruppe zur Deradikalisierung beiträgt. Das ist aber nicht immer so. Und in anderen Fällen hat ein Kontakt zwar Effekte, aber erst Jahre später. Ein anderer ehemaliger Rassist erzählt den Forschenden von einem schwarzen Kassierer, der das rassistische Tattoo an seinem Arm bemerkte und sagte: «Ich weiss, das bist du nicht, und dass du besser bist als das». Der Aussteiger erinnert sich: «Ich packte mein Zeug, rannte aus dem Laden direkt nach Hause und betrank mich so schnell ich konnte. Dann ging ich raus, um zu prügeln, um Abstand zwischen mich und diesen Moment zu bringen, in dem ich auf Freundlichkeit gestossen war. Das war in meinen ersten Monaten als Rechtsradikaler. Es dauerte sieben Jahre, bis dieser Akt der Freundlichkeit Früchte trug.»

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