Das musst du wissen

  • Mutationen gehören zur Tagesordnung in unseren Zellen, die meisten davon sind ungefährlich oder werden repariert.
  • Falls aber unsere Schutzmechanismen versagen und tumorfördernde Fehler passieren, kann Krebs entstehen.
  • In zwei Fällen konnten Forschende ausfindig machen, wann die ursprüngliche Mutation von Krebs stattfand.
Den Text vorlesen lassen:

Anna war 19 Jahre alt, als das Gen JAK2 in einer ihrer Blutstammzellen mutierte. Diese spezifische Veränderung im JAK2-Gen führte dazu, dass zu viele Blutzellen produziert wurden. Die mutierte Stammzelle teilte sich im Knochenmark öfter als Stammzellen ohne Mutation und verdrängte diese dadurch langfristig. Das war der Anfang von einem seltenen Blutkrebs, welcher zu den myeloproliferativen Neoplasien, kurz MPN, gehört. Diese Krebsart diagnostizierten Ärzte bei Anna dann 44 Jahre später.

Der Name ist fiktiv, die Person und der Fall dahinter aber nicht. Forschenden der Harvard Medical School ist gelungen, bei zwei Krebspatienten den Zeitpunkt der ursprünglichen, krebsbegünstigenden Mutation zu identifizieren. Wie sie das geschafft haben, beschreiben sie im Fachmagazin Cell Stem Cell.

Science-Check ✓

Studie: Reconstructing the Lineage Histories and Differentiation Trajectories of Individual Cancer Cells in Myeloproliferative NeoplasmsKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDer Stammbaum der Krebszellen beruhte auf wenigen Stammzellen: 22 mutierte und 20 normale Knochenstammzellen bei der 63-jährigen Patientin und 13 mutierte und 21 normale Knochenstammzellen beim 34-jährigen Patienten. Eine grössere Zellkolonie und mehr als zwei krebskranke Personen wären nötig, um die Ergebnisse zu bestätigen.Mehr Infos zu dieser Studie...

Mutationen sind alltäglich – die Entstehung von Krebs nicht

Täglich passieren in unseren Körperzellen Millionen von Mutationen. Diese Veränderungen im Genmaterial passieren beim Kopieren der DNA-Sequenz in der Zelle oder durch Umwelteinflüsse, die die DNA schädigen können. Meist sind die Veränderungen harmlos und lösen keinen Krebs aus. Denn für ein Tumorwachstum müssen zahlreiche solcher Fehler gleichzeitig oder nacheinander passieren. Ausserdem besitzen unsere Zellen ein hocheffizientes Reparatursystem und ein Selbstmordprogramm, um veränderte Zellen aus dem Verkehr zu ziehen. Und nicht zuletzt hilft ein intaktes Immunsystem dabei, veränderte Zellen zu vernichten.

Die Chance ist also gering, dass alle Schutzmechanismen versagen und die Erbgutveränderungen genau an denjenigen DNA-Sequenzen stattfinden, welche dann Krebs begünstigen. Trotzdem kann die Krankheit entstehen – und je älter wir werden, desto eher: Denn mit zunehmendem Alter wird das Reparatur- und Immunsystem schwächer und somit überlebt eine Zelle mit einer ungünstigen Mutation eher.

Trotz allen komplexen Faktoren, welche einen Krebs unter bestimmten Bedingungen begünstigen – irgendwo begann es mit einer ersten Mutation. Im Fall von Anna war es die Mutation am JAK2-Gen. Doch wie konnten die amerikanischen Forschenden den Zeitpunkt dieser Mutation ausfindig machen?

Die Suche nach der ersten Mutation

Dazu mussten die Krebsforschenden Knochenmarkstammzellen isolieren. Denn die Mehrzahl der diagnostizierten Fälle von MPN sind auf die Mutation des Gens JAK2 in diesen Stammzellen zurückzuführen. Diese Zelltypen sind die Produktionsstätten von Blutzellen, welche in unserem Körper alle vier Monate erneuert werden. Je grösser die Teilungsrate in einem Körpergewebe, desto grösser ist das dortige Risiko für Krebs. Daher ist das Krebsrisiko im Blutsystem höher als zum Beispiel in den Muskeln, welche sich nur alle fünfzehn Jahre erneuern.

Deshalb untersuchten die Krebsforschenden eine 63-jährige MPN-Patientin und einen 34-jährigen MPN-Patienten, welche beide dieselbe Erbgutveränderung in einer solchen Knochenmarkstammzelle aufwiesen. Dazu entnahmen sie beiden Personen eine Anzahl Stammzellen mit der JAK2-Mutation, sowie Stammzellen ohne diese Mutation. Dann sequenzierten die Forschenden das ganze Erbgut der einzelnen Zellen. Durch die Unterschiede in den Sequenzen der Zellen mit Mutation und jenen ohne konnten die Forschenden eine Art Abstammungsgeschichte der Zellen rekonstruieren, auch phylogenetischer Stammbaum genannt. Dieser bildet die gemeinsamen Vorfahren der Zellen ab. «Bei der Abstammungsgeschichte von Krebszellen können wir bis zur Ursprungszelle zurückgehen. Diese ist dann der gemeinsame Vorfahre, in dem die erste Mutation aufgetreten ist», sagt Sahand Hormonz, Assistenzprofessor für Systembiologie an der Harvard Medical School, in einer Medienmitteilung. «Am Anfang ist da nur eine Zelle, die diese Mutation hat», sagt Hormoz, «und für die nächsten zehn Jahre sind es nur rund hundert Krebszellen. Aber mit der Zeit wächst die Anzahl exponentiell und es werden Tausende.»

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Die erste Mutation geschah Jahrzehnte vor der ersten Krebsdiagnose

In der Schweiz lag das Durchschnittsalter bei einer erstmaligen Diagnose von einem bösartigen Tumor im Jahr 2017 bei etwa 67 Jahren, wie die Nationale Krebsregistrierungsstelle mitteilt. Die erste krebsbegünstigende Mutation tritt jedoch viel früher auf, wie Annas Fall zeigt.

Um nun den Zeitpunkt dieses Erstereignisses zu bestimmen, errechneten die Forschenden die Mutationsraten. Die Rate ist in jedem Alter und von Person zu Person unterschiedlich. Beim 34-Jährigen fanden die Forschenden im Schnitt 700 einzelne Veränderungen der DNA-Sequenz in jeder untersuchten Stammzelle. Die 63-jährige Anna hatte hingegen fast 1200 Mutationen pro Zelle. Aufgrund dieser Anzahl an Mutationen in jeder Zelle und des jeweiligen Alters der Individuen berechneten die Forschenden eine Mutationsrate und konnten anhand dieser abschätzen, wann die Ursprungsmutationen stattgefunden hatten. Bei der 63-jährigen Krebspatientin geschah diese vor rund vor 44 Jahren im Alter von 19 Jahren, beim 34-jährigen Krebspatienten etwa vor 25 Jahren. Damals war er neun Jahre alt.

Der Blick in die Vergangenheit kann uns oft etwas über die Zukunft sagen – in diesen Fällen leider zu spät. Die Crux dieses Forschungsgebiets wird darin liegen, diese krebserregenden Mutationen bereits früher zu erkennen. Dazu gehört aber auch zu verstehen, warum gewisse Mutationen bei einigen zu Krebs fortschreiten, bei anderen jedoch nicht.

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