Radicchio und Cicorino, Zuckerhut, Chicon, Chicorée de Bruxelles oder Endivie – die Abkömmlinge der Gemeinen Wegwarte sind zahlreich. Und ebenso vielfältig sind ihre Formen, Farben und Namen. In Italien beherrschen rot, grün und weiss das Bild: die «Rosa di Chioggia» – oder Radicchio rosso – ist die bekannteste, der «Grumolo Verde» vielleicht die beliebteste, der «Radicchio Variegato di Castelfranco» die bunteste unter den Zichorien-Züchtungen aus den Regionen Trentino, Venetien und Friaul-Julisch Venetien.
Die Bleichtechnik, die aus der Wurzel der Wildblume einen schmackhaften Salat wachsen lässt, hat aber wahrscheinlich ein Belgier nach Norditalien gebracht: Francesco Van den Borre, Gartenbauer und Mitglied der Société royale d’agriculture et de botanique de Gand, liess sich 1859 in Preganziol in der Provinz Treviso nieder und war an der Gestaltung und Bewirtschaftung zahlreicher Gärten und Parkanlagen beteiligt in der Region, in der seine Nachkommen noch heute ein Gartenbauunternehmen betreiben.
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Wie das Verfahren ursprünglich in Belgien entstanden ist, lässt sich nicht mehr genau nachvollziehen. Franciscus Bresiers hat als Direktor des Botanischen Gartens Brüssel 1850 den Anbau erstmals systematisiert. Schon 1751 aber beschrieb der Schriftsteller François-Alexandre Aubert de La Chenaye-Desbois in seinem «Dictionnaire universel d’agriculture et de jardinage, de fauconnerie, chasse, pêche, cuisine et manège» eine besondere, von der Champignon-Zucht inspirierte Methode des Anbaus der Wegwarte. Die Legende schliesslich verortet die Entstehung des Chicorées in die Zeit der Wirren der Revolution von 1830, als sich das überwiegend katholische Belgien von den mehrheitlich protestantischen Niederlanden löste: Um die Zichorienwurzeln, die die Bauern rösteten und mahlten, um für sich den berühmten Kaffeeersatz zu brauen, vor Plünderungen zu schützen, hätten sie die Wurzelrüben in dunklen Verstecken mit Erde bedeckt. Als sie aber die Wurzeln wieder ausgraben wollten, hätten sie die schmackhaften weissen Blätter entdeckt. «Witloof» – Weissblatt – ist denn auch der flämische Name des beliebten Salats.
Wasser und kein Licht
Der «Chicorée de Bruxelles» führt nämlich ein Leben in Etappen. Es beginnt als winzig kleiner hellgelber Samen, der im Mai – die minimale Bodenwärme sollte zwölf Grad betragen – auf den Acker kommt. Dort lässt er sich erst mal Zeit: Nach zwei Monaten zeigt die Pflanze fünf bis sieben Laubblätter, bis August sollten es 20 sein, im September verlangsamt sich das Wachstum, denn bald hat die Wurzel genügend Nährstoffe eingelagert, damit sie im Winter einen schönen Zapfen bilden kann. Am 25. Oktober beginnt die Ernte der Wurzel, die bis Ende November dauert. Jetzt geht alles sehr schnell – innerhalb von 24 Stunden müssen die Wurzeln sortiert und kühl gelagert werden, damit sie keinen Schaden nehmen. Bei Temperaturen bis -2 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent bildet sich ein feiner Eisschimmer, der die Wurzel während ihres «Winterschlafs» – der mindestens acht Tage, maximal vier Monate dauert – schützt. Rund zwei bis drei Wochen, bevor der angehende Chicorée für seinen letzten Entwicklungsschritt in die sogenannte «Treiberei» kommt, wird ganz langsam die Temperatur erhöht. In den Treibereien dann werden die bis zu sechs Zentimeter langen Wurzeln von Hand dicht aufgereiht in Wannen in Wasser gestellt, die Becken meterhoch übereinandergestapelt. Und dann geht das Licht aus: In 21 Tagen wachsen aus den Wurzelrüben in absoluter Dunkelheit – das temperierte Wasser zirkuliert in einem geschlossenen Kreislauf – die begehrten weissen Zapfen. Licht würde den Chicorée grün und bitter machen. Deshalb eilt es auch wieder beim nächsten Schritt: Haben die Zapfen die gewünschte Qualität und Grösse erreicht, wird der Chicorée maschinell von der Wurzel getrennt, werden die unschönen Blätter von Hand entfernt und wird der Salat in schwarz ausgekleideten Kisten sorgfältig gestapelt. Wobei der Begriff «Salat» der Wegwarte nur zum Teil gerecht wird: Während die Deutschschweizer den Chicorée am liebsten roh geniessen, gilt er den Romands als delikates Gemüse, das sie gebraten oder gekocht bevorzugen.
Vitamine für den Winter
Acht Kilogramm Chicorée pro Person und Jahr vertilgen Belgierinnen und Belgier Schätzungen von Produzenten zufolge, vier Kilogramm pro Person sind es in den Niederlanden und in Frankreich. Gut ein Kilo pro Jahr gönnen sich Schweizerinnen und Schweizer, das waren fast 10 000 Tonnen insgesamt im Jahr 2017 – rund 7000 Tonnen davon stammten aus Schweizer Produktion. 2305 Tonnen wurden importiert, grösstenteils aus den Niederlanden und Belgien, aber auch Weltmarktführer Frankreich lieferte in die Schweiz. Mittlerweile wird hierzulande ganzjährig produziert, traditionell galt Chicorée aber als Wintersalat beziehungsweise -gemüse und wurde von November bis April angeboten. Im Winter aber – wenn frischer Salat und Gemüse rar sind − sind seine Inhaltsstoffe weiterhin am begehrtesten: Eisen und Vitamin C zur Stärkung des Immunsystems, Ballaststoffe für die Verdauung und die Darmflora sowie die Vitamine B2 und B6 zur Förderung des Stoffwechsels. Chicorée enthält weiter die Mineralien Kalium und Kalzium, seine Bitterstoffe regen Leber und Bauchspeicheldrüse an, sekundären Pflanzenwirkstoffen wie dem Farbstoff Quercetin werden antioxidative und entzündungshemmende Effekte zugeschrieben – und das Ganze für zehn Kalorien auf 100 Gramm.
Adieu Bruxelles?
Seit 2008 trägt Chicorée aus dem traditionellen Freilandanbau in der Region Brüssel eine geschützte geografische Herkunftsangabe. Belgierinnen und Belgier sind überzeugt, dass nur der nach altem Verfahren – unter kleinen Dämmen vor Licht geschützt – auf den sandigen Böden der Hauptstadtregion gezogene Chicorée den vollen Genuss bietet. Aber die verbliebenen rund 100 auf den «Brussels Grondwitloof» spezialisierten Bauern sorgen sich um die Zukunft ihres Metiers. Die Arbeit in der handwerklichen Chicorée-Zucht ist hart und die Investitionen in landwirtschaftliches Material sind hoch – junge Berufseinsteiger lassen sich kaum noch auf das Abenteuer Bodenchicorée ein. «Das Durchschnittsalter der Landwirte liegt bei 55 Jahren. Das sind Bauern, die in den kommenden zehn Jahren in Rente gehen. Dadurch werden wir Probleme bekommen», klagt Frans van Meldert gegenüber dem flämischen Regionalsender Radio 2. Meldert ist Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins ASBL Brussels Grondwitloof, der zusammen mit den Behörden der Provinz Flämisch-Brabant – das Zentrum der belgischen Produktion – mit zahlreichen Initiativen versucht, dem alten Handwerk wieder mehr Zulauf zu verschaffen und zu verhindern, dass die Produktion sich weiter nach Nordfrankreich verlagert, das die Bauern mit lascheren Umwelt- bestimmungen lockt. Seit zehn Jahren ist ausserdem die «Witloof-Box» im Umlauf: Die Box enthält unter anderem ein Anbauset, ein Handbuch und Lesematerial für Primarschüler, die so schon in jüngsten Jahren erste Erfahrungen mit dem Anbau des belgischen National-Gemüses machen können.
Mit Strunk und Stiel!
Rund 800 000 Tonnen Chicorée-Wurzelrüben fallen jährlich europaweit als Abfall an. «Die Wurzelrübe macht ca. 30 Prozent der Pflanze aus. Die eingelagerten Reservekohlenhydrate werden für die Bildung der Salatknospen nicht vollständig aufgebraucht, sodass wertvolle Reservestoffe verbleiben», erklärt Agrarbiologin Judit Pfenning von der Universität Hohenheim in Stuttgart. Um diese Reservestoffe besser zu nutzen, hat Pfenning zusammen mit Kollegin Andrea Kruse vom Institut für Agrartechnik ein neuartiges Verfahren entwickelt: Aus den Chicorée-Wurzeln, die bisher in Biogas- und Kompostieranlagen entsorgt wurden, gewinnen die beiden Forscherinnen Hydroxymethylfurfural (HMF), eine von zwölf Basischemikalien, die zukünftig in der Kunststoffindustrie verwendet werden können. HMF dient als Ausgangsstoff für Nylon, Perlon, Polyester oder Kunststoffflaschen. Solche Basischemikalien wurden bisher aus Erdöl gewonnen, aber «die Chicorée-Wurzelrübe eignet sich nicht nur deshalb so gut zur Gewinnung von HMF, weil sie ein Abfallprodukt ist», betont Kruse: «Sie produziert auch eine höherwertige Chemikalie als das Äquivalent aus Erdöl.» So könnten beispielsweise Kunststoffflaschen dünner gezogen werden als solche aus dem erdölbasierten PET, was Transportkosten spare und die Umweltbilanz noch weiter verbessere. Knackpunkt sind die Lagerung und Qualität der Wurzelrüben. «Nur wenn wir es schaffen, eine gleichbleibende Qualität zu gewährleisten, ist die Wurzel für die Industrie interessant», führt Kruse aus – hohe und einheitliche Qualitätsanforderungen stellen aber auch Verbraucherinnen und Verbraucher, die den Chicorée essen wollen. Problematischer für die Forscherinnen ist die Tatsache, dass die Salatproduktion ein Geschäft mit saisonalen Spitzen ist, die chemische Industrie aber gleichbleibende Lieferungen über das Jahr erwartet, um ihre Anlagen kontinuierlich auszulasten. Schwerpunkt der Forschung ist deshalb zurzeit die Lagerung der Chicorée-Wurzeln ohne Qualitätsverlust. «Es ist ein Projekt, das sich nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit umsetzen lässt», betonen Kruse und Pfenning: zum einen die Qualitätskontrollen, Anbau- und Lagerungsversuche im Pflanzenbau, zum anderen die Laborexperimente in der Konversionstechnologie.