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Es läuft nicht schlecht für die Schweizer Olympiamannschaft in Peking. Bis zur Halbzeit der Spiele lag die Schweiz auf Rang 8 des Medaillenspiegels. Besonders freuen mich neben den Goldmedaillen auch Leistungen wie jene der Hockey-Frauen. Im Viertelfinal schlugen sie die Russinnen und spielen nun um Bronze. Man stelle sich das vor: Die Schweiz, ein Zwerg mit einer Bevölkerung von 8,5 Millionen, schlägt Russland mit 144 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, also einer 17-mal grösseren Auswahl an Talenten.

Bild aus der Torkameraperspektive wie zwei Spielerinnen nach dem Puck greifen.KEYSTONE/Brian Snyder/Pool Photo via AP

Stefanie Wetli (18) und Torhüterin Andrea Brändli (20) im Spiel gegen Russland bei Olympia 2022.

Was hat das mit Wissenschaft zu tun? Moment, es kommt gleich. Zuerst noch dies:

Nicht nur die Schweizer Athletinnen und Athleten sind gerade ziemlich erfolgreich. Auch ehemalige Olympioniken sind zu wahren Grössen ihres Fachs geworden. Zum Beispiel: Bernhard Russi, Abfahrts-Olympiasieger von 1972 ist ein weltweit gefragter Berater und hat die Abfahrtspiste von Peking gebaut. Oder Erich Schärer, Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister im Zweier- und Viererbob zwischen 1976 und 1986 und damit einer der erfolgreichsten Bobsportler überhaupt. Er hat die Disziplin Monobob entwickelt und erreicht, dass diese neue Sportart dieses Jahr zum ersten Mal im Olympia-Programm figuriert.

Schwarzweissbild von feiernden Skifahrern.
KEYSTONE/UNITED ARCHIVES/ARCHIVAL COLLECTION
Winterolympiade in Japan 1972, Abfahrts-Medaillensieger Bernhard Russi mit der Nummer 4.
Schwarzweissbild mit Medaillen.
KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str
Die Bobfahrer Josef "Sepp" Benz, rechts, und Erich Schaerer, links, mit ihren im 2er-Bob gewonnenen Bronzemedaillen an den Olympischen Winterspielen in Innsbruck, aufgenommen im Februar 1976.

Man stelle sich vor, Pioniere wie Russi und Schärer und die Schweiz als ganze Nation würde von Olympischen Spielen ausgeschlossen. Nicht wegen Doping oder Bestechungsskandalen, sondern aus politischen Gründen. Die Schweiz hätte sich bei irgendwelchen politischen Verhandlungen mit der EU nicht geeinigt und wäre darum weg von Olympia.

Nicht auszudenken, was das für einen Aufstand gäbe! Die Verbände würden protestieren, das ganze Sportvolk aufschreien, der Blick eine Kampagne aufziehen. Und der Bundesrat würde sich in Verhandlungen stürzen.

Das Szenario ist natürlich fiktiv, aber die Parallele zwischen Olympia und Wissenschaft drängt sich auf. Denn in der Wissenschaft sind wir ähnlich erfolgreich wie im Wintersport. Man bedenke nur, wie viele Nobelpreisträger die kleine Schweiz hat. Das Land belegt in der weltweiten Innovationsrangliste seit Jahren konstant den ersten Platz, und Schweizer Unis sind unter den besten in Europa und der Welt.

Aber die Schweizer Forschung wird aktuell gerade von der Politik komplett missbraucht. Weil die Verhandlungen über das Rahmenabkommen gescheitert sind, hat die EU die Schweiz von dem europäischen Forschungsprogramm Horizon Europe ausgeschlossen. Das Programm wird von 2021 bis 2027 fast 100 Milliarden Euro für Forschung und Innovation ausgeben. Doch Schweizer Forschende können keine Anträge mehr stellen und Schweizer Forschende können dort auch keine Projekte mehr leiten. Das ist wie ein Ausschluss von Olympia – nur nimmt das Schweizer Volk dies hin.

Die Folgen sind katastrophal. Nicht nur weil die Forschenden vom Horizon Europe ausgeschlossen sind. Weil die Schweiz an Attraktivität verliert, wandern wissenschaftliche Talente ab. Ausländische Unis werben aktiv Schweizer Forschende an. Das ist, wie wenn alle guten Hockeyspielerinnen nur noch bei ausländischen Klubs spielen würden. Darunter leiden die einheimischen Klubs, das Niveau der Liga sinkt, die Attraktivität sinkt, die Zuschauer bleiben aus, die Liga verliert Geld. Das würden sich Verbände, Klubs und Fans nicht bieten lassen. Wir erinnern uns an Fan-Proteste im Fussball, die sich gegen  umstrittene Sponsoring-Deals ihres Klubs richteten, oder auch schon mal verhindern konnten, dass ein Spieler den Klub wechselte.

Der Ausschluss von Horizon Europe ist nicht bloss ein Problem für die Hochschulen. Auch Grosskonzerne, KMU und Start-ups bekommen keine europäischen Fördermittel mehr. Und letztendlich ist es ein Problem für das ganze Land, denn die Schweiz hat bis jetzt über europäische Forschungsprogramme mehr Geld bezogen, als sie dort eingeschossen hat. Die Programme sind also auch wirtschaftlich lukrativ.

Jetzt fordern die ETH, Unis und die Pharma-Industrie in einer Resolution vom Bundesrat, dass er bis Ende 2022 mit der EU eine Vollassoziierung an Horizon verhandle. Dasselbe fordert die Initiative Stick to Science. Ich bitte alle Fans von Wissenschaft, alle, die verstehen, dass Innovation essenziell für unser Land ist, die Petition zu unterschreiben.

Bis der Anschluss der Schweiz an Horizon Europe wieder vollzogen ist, will die Kommission für Wissenschaft Bildung und Kultur (WBK) des Ständerates den Schaden mittels Ergänzungsmassnahmen abfedern. Das ist, wie wenn die Schweiz für sich allein eigene Olympische Spiele veranstalten würde. So gut gemeint diese Ergänzungsmassnahmen sind, sie können nur eine Überbrückung sein, bis sich die Schweiz mit der EU geeinigt hat.

Die Schweiz muss sich mit der EU einigen, denn die gescheiterte Europapolitik des Bundesrats darf nicht die Wissenschaft bestrafen. Denn Wissenschaft darf nicht Spielball der Politik sein. Wissenschaft ist unpolitisch und völkerverbindend. Genau wie Sport.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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