Äusserlich war sie keine imposante Erscheinung. Als «kleines schlichtes Persönchen, das eilends die Treppe hinauf trippelt», beschrieb sie ihre langjährige Wegbegleiterin und Partnerin Ida Schneider in ihrem Tagebuch. Trotzdem machte Anna Heer vielen Leuten Eindruck; ihrer Hingabe und Beharrlichkeit konnten sich nur wenige entziehen. Das erklärt ihre Erfolge: Sie war eine der ersten Schweizer Ärztinnen, die erste Chirurgin, und sie gründete die Pflegerinnenschule mit einem ausschliesslich von Frauen geführten Spital – für die damalige Zeit eine Revolution.

Niemand ahnt dies, als die 17-jährige Anna Heer 1879 die Bezirksschule Aarau abschliesst und sich dem Berufsleben zuwendet. Zumal sie anfänglich einen ganz anderen Weg einschlägt: Zeichnen war während der Schulzeit ihre Leidenschaft. Deshalb verlässt sie ihr Elternhaus im aargauischen Suhr, um sich an der Zürcher Kunstgewerbeschule zur Malerin ausbilden zu lassen. In Zürich kam sie im Haus des damaligen Erziehungssekretärs und späteren Stadtrats Johann Caspar Grob unter – ein Glücksfall mit weitreichenden Konsequenzen. Denn dort begegnet Anna der Medizinstudentin Emma Strub, die später die erste Ärztin in der Stadt Basel wird. Animiert durch dieses Vorbild wächst bei Anna der Wunsch, selbst Ärztin zu werden. Dazu ermuntert sie auch der Hausherr Johann Grob, ein überzeugter Förderer der Frauenbildung. Er ist für Anna Heer zum Ziehvater geworden und unterstützt sie bei all ihren Vorhaben.

Anna Heer bricht die Kunstgewerbeschule ab, holt die Matura nach und schreibt sich für das Medizinstudium an der Universität Zürich ein. 1888 legt sie das Staatsexamen ab und eröffnet bereits im darauffolgenden Jahr eine Praxis für Gynäkologie und Geburtshilfe in Zürich. Da ist Anna Heer gerade mal 26 Jahre alt. Es war die Zeit, in der Zürich kräftig wuchs, gleichzeitig lebten viele Menschen in Not und Armut. Für den Grossteil der Bevölkerung war auch die Krankenversorgung ungenügend.

Anna Heer und Ida Schneider, die Chefärztin und die Oberin der Pflegenden.Gosteli-Stiftung, SPZ C/8

Anna Heer und Ida Schneider, die Chefärztin und die Oberin der Pflegenden.

In diesem Umfeld kann sich die junge Ärztin nicht über zu wenige Patientinnen beklagen. Bald strömen Frauen nicht nur aus Zürich, sondern aus der gesamten Schweiz und selbst aus dem Ausland in ihre Praxis, wie die Chronistin Anna von Segesser schreibt: «Das Marktfraueli, den Henkelkorb in der Hand, die Italienerin im bunten Kopftuch und den schreienden Sprössling auf dem Arm, […] und an der Haustüre fährt ein Zweispänner vor, dem eine in Pelze gehüllte Frau entsteigt.» Doch hauptsächlich behandelt und berät die junge Ärztin «bescheidene Frauen aus dem Mittelstand und kleine Leute.» Diese stehen ihr am nächsten.

Obgleich die Praxis floriert, ruht sich Anna Heer nicht auf ihren Lorbeeren aus. Denn ein Umstand macht ihr Sorgen: Es gibt zu wenig gut ausgebildetes Pflegepersonal. Zu jener Zeit wurden Kranke oft zu Hause von Dienstboten oder weiblichen Angehörigen gepflegt. In Spitälern waren die Pflegerinnen zumeist Ordensschwestern; auch sie mehr schlecht als recht geschult. Schon nur das genaue Ausführen von ärztlichen Verordnungen war damals nicht selbstverständlich.

Anna Heer beschliesst, eine Schule zu gründen, die Frauen zu kompetenten Pflegerinnen ausbildet. Damit die Ausbildung nicht bloss Theorie bleibt, plant sie auch gleich ein angeschlossenes Frauenspital. Und zwar eines, das gänzlich von Frauen geführt werden soll. Ein Mammutprojekt, – zu einer Zeit, in der Frauen zwar Medizin studieren durften, jedoch von der männlichen Ärzteschaft geflissentlich ignoriert wurden. Eine Assistenzstelle zu finden, war für eine Ärztin beinahe unmöglich.

Eine Verbündete findet Anna Heer in der Pflegerin Ida Schneider. Die beiden werden Kolleginnen, Freundinnen, vielleicht auch Geliebte. Über 20 Jahre lang werden sie zusammen daran arbeiten, die Krankenpflege zu professionalisieren sowie Ärztinnen und Pflegerinnen zu mehr Sicherheit und Ansehen zu verhelfen.

Die Dritte im Bunde ist Marie Heim-Vögtlin, die erste Ärztin in der Geschichte der Schweiz. Gemeinsam wenden sich die Frauen mit ihrem Anliegen an den Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein, damals eine bedeutende Organisation der Frauenbewegung. Unter dessen «Matronat» beginnen die drei, das Spital zu planen sowie Geld für den Landkauf und den Bau des Gebäudes zu sammeln. Unermüdlich reist Anna Heer umher, besucht mögliche Gönnerinnen, hält Vorträge, organisiert Benefizveranstaltungen und ignoriert Rückschläge. Fünf Jahre lang. 1899 ist es soweit: An der Carmenstrasse in Zürich wird der Grundstein für die Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital gelegt.

Viele Elemente der Architektur entwerfen Anna Heer und Ida Schneider selbst: Für die Durchfahrt der Krankenbetten richtig bemessene Korridore und Türfassungen, schalldämpfende Doppeltüren, Speiseaufzüge, viel Licht, Luft und Sonne. Es entsteht das modernste und in vieler Augen auch schönste Spital der Schweiz. Am 30. März 1901 wird es feierlich eröffnet.

Anna Heer fungiert als Chefärztin und Leiterin des gesamten Betriebs, Marie Heim-Vögtlin wird Abteilungsärztin, Ida Schneider Oberin der Pflegenden. Der Start ist schwierig. Denn die Leute hegen Vorurteile gegen ein von Frauen geführtes Spital. Ehemalige Schülerinnen schreiben von «hartnäckigem Widerstand, insbesondere von Seiten der Ärzte». Dennoch geht es mit der Institution aufwärts. Die Zahlen der Patientinnen und Schülerinnen steigen, der Betrieb läuft. Und bald schon platzte die «Pflegi», wie die Schule mittlerweile genannt wird, aus allen Nähten. Ein zweiter Gebärsaal wird benötigt, ein Schwesternhaus angebaut.

Die Leute hegen Vorurteile gegen ein von Frauen geführtes Spital. Widerstand kam insbesondere von Seiten der Ärzte.

Nun ist Anna Heer auf dem Höhepunkt: Sie steht an der Spitze einer Hierarchie von ausschliesslich weiblichen Assistenz- und Oberärztinnen. Damals wie heute ein Unikum. Es bot Medizinerinnen die einmalige Gelegenheit, sich innerhalb eines Spitals ausbilden zu lassen und Karriere zu machen.

Tagsüber operiert und behandelt Anna Heer Patientinnen, abends unterrichtet sie bis 22 Uhr Pflegeschülerinnen. Freizeit hat sie wenig, Ferien kaum. Selten nimmt sie sich zusammen mit Ida Schneider eine Auszeit – oben auf dem Üetliberg, in Sichtweite ihres Spitals. Und selbst dort kommen die Frauen offenbar nicht von ihrem Lebenswerk los: Durch ein Fernrohr hätten sie jeweils in der «Pflegi» nach dem Rechten geschaut, erzählt man sich noch heute.

Ihr geistiges Erbe überlebt lange. Denn obwohl mit der Zeit auch männliche Ärzte hinzukamen, blieb der Grundgedanke des «Spitals von Frauen für Frauen» bestehen und die Leitung in Frauenhand. Das war spürbar: Hier wurden bereits in den 1930er-Jahren Frauen aufgenommen, die abtreiben wollten und das Spital war führend in der Brustkrebsforschung. Hätte Anna Heer das noch erlebt, es hätte ihr gefallen.

Der Tod ereilt die Ärztin mit erst 55 Jahren, nachdem sie die Klinik 18 Jahre lang geleitet hat. Bei der Behandlung eines Patienten zieht sie sich eine kleine Fingerverletzung zu – daraus entsteht eine Infektion. Nach einem Monat fiebriger Krankheit erliegt sie am 9. Dezember 1918 ihrer Verletzung.

Ida Schneider überlebt Anna Heer um ganze 50 Jahre. Im hohen Alter von 98 Jahren stirbt sie in Zürich-Albisrieden. Die Intimität ihrer Beziehung machten die beiden Pionierinnen nie zum Thema. Jedoch liest man in einem Nachruf nach Anna Heers Tod: «Wunderbar haben die beiden Frauen sich ergänzt und 22 Jahre hindurch restlos alles miteinander durchlebt. Sie gehörten in Wahrheit zusammen.»

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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