Das musst du wissen

  • Entscheidend für die Identität eines Käses ist die Vielfalt der Bakterien und Hefen in der Rohmilch.
  • Sie stammten traditionell aus der Umgebung des Bauernhofs und der Käserei.
  • Doch als die Pasteurisierung in den 1960er Jahren aufkam, verschwanden die Mikroben. Heute werden sie zugesetzt.

Warum wir darüber berichten. Kaum ein Lebensmittel symbolisiert die gastronomische Tradition der Schweiz so sehr wie Käse. Mehr als 20 Kilogramm davon verzehrt jeder von uns durchschnittlich im Jahr. Da liegt es nahe, dass sich Wissenschaftshistoriker und -soziologen mit dem Milchprodukt beschäftigen. Sie untersuchen etwa die Bedingungen, unter denen Käse hergestellt wird und wie diese die Weitergabe des Know-how zwischen Handwerkern, Wissenschaftlern und Verbrauchern beeinflussen. Dabei steht ein Aspekt im Zentrum der Untersuchungen: die Artenvielfalt der Bakterien, die bei der Umwandlung von Milch in Käse helfen.

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Ein Phantombild der Käsemikroben. Mikrobielle Ökosysteme in Rohmilch bestehen aus bis zu mehreren hundert verschiedenen Arten von Bakterien, Hefen und anderen Pilzen. Diese sind verantwortlich für die Gärungsprozesse, die letztlich Milch in Käse umwandeln. «Man muss zwischen der mikrobiellen Flora der Milch und der des Käses unterscheiden. In einer kürzlich durchgeführten Studie wurden mehr als 1 400 Bakterien in mehreren Proben europäischer Milch und mehr als 1 000 in Käse gezählt. Darüber hinaus gibt es verschiedene Arten von Klassifikationen, je nachdem, ob man die Arten von der biologischen oder von der handwerklichen Seite betrachtet», erklärt die Wissenschaftshistorikerin Elise Tancoigne.

Elise Tancoigne

Elise Tancoigne forscht an der Universität Genf, und beschäftigt sich mit der Geschichte der Modernisierung der Milchindustrie und der Steuerung von Milchmikroben. Sie wird ihre Arbeit auf einer von reatch organisierten Veranstaltung in Genf am 17. September vorstellen.

«Man kann unterscheiden zwischen Säuerungsbakterien, die Laktose verbrauchen, um Milchsäure zu produzieren, Reifungsbakterien, die dem Käse seinen Geschmack verleihen, und Oberflächenhefen und Schimmelpilzen, die sich auf der Rinde befinden. In einigen sehr speziellen Fällen wird die Entwicklung von Milben auf der Oberfläche sogar gefördert (z.B. beim Milbenkäse «Artison» aus Frankreich, Anm. d. Red.).»

Geschichtliches zu Wissenschaft und Technik der Käseherstellung. Traditionell kam die ganz besondere mikrobielle Flora eines Käses, die sogenannte einheimische Flora, einfach aus der Umgebung des Bauernhofs und der Käserei. Dies änderte sich in den 1960er Jahren. Ab dann wurde mehr und mehr pasteurisiert – oder zumindest bei niedrigeren Temperaturen thermisiert –, und auch die Hygienestandards wurden strenger. Neue Probleme tauchten auf:

«In den späten 1960er Jahren stellte Agroscope (das Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, Anm. d. Red.) fest, dass sich die Zusammensetzung der Mikrobenpopulationen veränderte. Ihre Menge in der Rohmilch nahm so stark ab, dass sie nicht mehr ausreichte für die Käseherstellung. Da Agroscope seit Anfang des Jahrhunderts eine Sammlung von Mischkulturen der Bakterienflora in Käse aufgebaut hatte, konnten viele Stämme gerettet und den Käsern Kulturen angeboten werden.»

Diese Verarmung der mikrobiellen Vielfalt hat mit der Industrialisierung zu tun. Weil pasteurisierte Milch zu wenig Bakterien enthält, ist es für die Käseherstellung wichtig, dass sorgfältig ausgewählte Fermente in die Milch nachgesät werden. Die Forscherin fügt hinzu:

«Übertrieben könnte man sagen, dass es in Europa zwei Arten gibt, an die Käseherstellung heranzugehen: eine stärker industrialisierte Art in Nordeuropa, bei der seltener Rohmilch verwendet wird, und das Gegenteil in Südeuropa. Dies ist natürlich eine Vereinfachung. Aber heute wissen wir auch, dass bestimmte mikrobielle Ökosysteme der Rohmilch auch eine gute Resistenz gegen krankheitserregende Mikroben verleihen. Hier ist pasteurisierte Milch anfälliger.»

Den Bakterien wird die ihnen gebührende Ehre inzwischen wieder gezollt. Sie werden heute als wichtiger Faktor der Charakterbildung eines Käses angesehen, ebenso wie die Rasse der Milchkühe oder die Lage der Weiden. Für die Schweiz ist dies besonders wichtig; 63 Prozent des Käses wird hierzulande aus Rohmilch hergestellt.

Die Identität eines Käses. Bleibt die Frage: Was verleiht denn einem Käse nun seine Identität? Was unterscheidet ihn von einer anderen, ähnlichen Sorte?

«Das ist eine Debatte, die vor allem zu Beginn der Industrialisierung geführt wurde: Was ist das notwendige Minimum?», sagt Tancoigne. «Die Antwort hängt natürlich von den verschiedenen Käsesorten und ihrer Geschichte ab. Einige sind zu so genannten Gattungskäsen geworden, während andere ihre Identität durch Etiketten wie geschützte Ursprungsbezeichnungen (DOP) bewahrt haben. Aber die Situation ist komplex: einige DOPs haben hoch industrialisierte Prozesse.»

Wer ist unter diesen Bedingungen Garant für die Identität eines Käses? Das hängt davon ab, ob man es aus der Sicht des Verbrauchers, des Herstellers oder gar des Biologen betrachtet.

«Eine der Herausforderungen meiner derzeitigen Arbeit wird es sein, festzustellen, inwieweit Fragen der biologischen Vielfalt und der Hygiene auftauchen und angegangen werden. Und auch, ob diese Fragen von ein und denselben Akteuren angegangen werden. Bisher scheint es so, als sei das nicht der Fall.»

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Unsere Autorin Cornelia Eisenach hat ihn aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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