Das musst du wissen

  • Ein Novum in der Schweiz: Heute sprechen erstmals Forschende vor der Bundesversammlung über den Klimawandel.
  • Mit von der Partie: Der Klimaaktivist Guillermo Fernandez, der für das Anliegen in einen Hungerstreik trat.
  • Was auf dieses Treffen folgen soll, darüber gehen die Erwartungen auseinander.
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Eine Nachhilfestunde in Sachen Klimakunde fürs Parlament: Für dieses Anliegen kämpfte der Klimaaktivist Guillermo Fernandez vergangenen Dezember, wortwörtlich mit vollem Körpereinsatz: Fast vierzig Tage harrte der Familienvater aus Freiburg im selbstverordneten Hungerstreik vor dem Bundeshaus aus, um Umweltministerin Simonetta Sommaruga von seinem Anliegen zu überzeugen. Falls die Bunderätin seinem Wunsch nicht nachkomme, sei er bereit zu sterben, sagte er zu Beginn seines Streiks. Ein Kampf, der sich gelohnt hatte: Nach 39 Tagen sicherte man Fernandez zu, am 2. Mai 2022 werde ein Team von Forschenden vor die Bundesversammlung treten, um die neuesten Erkenntnisse zum Klimawandel vorzutragen. «Dann wird niemand im Bundeshaus mehr sagen können, er habe nichts gewusst von der drohenden Katastrophe», sagte Guillermo Fernandez kurz nach seinem Streik. Und kündigte an, er werde dort sein und genau kontrollieren, wer der Einladung folge.

«Verstehen, was auf dem Spiel steht»

«Dann wird niemand im Bundeshaus mehr sagen können, er habe nichts gewusst von der drohenden Katastrophe»

Das waren keine leeren Worte, wie sich nun zeigt. Guillermo Fernandez wird an der besagten Veranstaltung «Parlament trifft Wissenschaft» von heute Montag sogar selber eine Ansprache halten. Sein Appell: «Wissen ist Freiheit – Freiheit ist Verantwortung. Wir müssen uns jetzt die Freiheit nehmen, für die Zukunft unserer Kinder verantwortlich zu handeln», skizziert er für higgs die Stossrichtung seiner Rede. Der Austausch unter der Bundeshauskuppel, die Aufklärung über die gravierenden Folgen des Klimawandels, das ist genau das, was der Klimaaktivist gefordert hatte – wenn auch letztlich nicht Fernandez’ mediale Aktion den Ausschlag für den Event gegeben hat. Den Anlass hatte Nationalratspräsidentin Irene Kälin von der Grünen Partei bereits zuvor geplant – und aufgrund des Streiks auch schon vorzeitig angekündigt: «Ich habe entschieden, die Kommunikation dieses Anlasses vorzuziehen in der Hoffnung, dass wir damit Herrn Fernandez eine Hand reichen können, damit er seinen Hungerstreik beendet und wieder zu seiner Familie kann», sagte Kälin, die in diesen Tagen in der Ukraine weilt, im Dezember gegenüber dem Online-Magazin «das Lamm». Ein Engagement, das Fernandez sehr schätzt, wie er nun bekräftigt: «Ich bin Frau Kälin dankbar, dass sie diese Diskussion zwischen dem Parlament und den Forschenden organisiert hat. Sie wird allen Parlamentariern die Möglichkeit geben, zu verstehen, was auf dem Spiel steht.»

Knapp dreissig Forschende im Bundeshaus

Gespannt auf den Austausch ist nicht nur Klimaaktivist Fernandez. Auch für die Vertreter des Netzwerks Akademien der Wissenschaften ist der heutige Anlass etwas Besonderes, wie Sprecher Marcel Falk sagt: «Dass Vertretende der Wissenschaft zur Debatte mit der gesamten Bundesversammlung eingeladen werden, hat es bislang in der Schweiz noch nie gegeben. Das ist ein Novum.» Seitens Wissenschaft werden laut Falk acht Personen ein Referat halten. Teilnehmen werden aber mehr als diese acht aus der Wissenschaft – insgesamt knapp dreissig Forschende, wie Falk sagt. Allesamt Fachleute, welche die jüngsten Berichte des Weltklimarats und des Weltbiodiversitätsrates mitverfasst hatten. Dass fast alle aus dem Schweizer Autorenteam anwesend sein werden, zeige «die grosse Bedeutung, welche die Forschenden dem Austausch geben».

Inhaltlich bilden Klimawandel und Biodiversität die Schwerpunkte. Beide Themen seien eng miteinander verbunden, erklärt Falk: «Wenn der Klimawandel weiter voranschreitet, wird er bald zur Hauptursache des Biodiversitätsverlusts.» Das Klima zu schützen bedeute auch, die Biodiversität zu schützen. Auch gebe es für beide Krisen – die Klimaerwärmung und die schwindende Biodiversität – gemeinsame Ursachen: etwa die intensive Landwirtschaft. Wichtig: Der Event ist nicht als einseitiger Informationsfluss von den Forschenden zum Parlament gedacht. Vielmehr soll nach den Referaten eine Diskussion stattfinden, wie Marcel Falk sagt. Der Austausch soll etwa die Hälfte der Veranstaltung ausmachen – und sei mindestens so wichtig wie die Vorträge, betont er.

Nur Worte oder auch Taten?

Doch welche Erwartungen hat die Wissenschaft an diesen Austausch – sollen den Worten auch Taten folgen, also konkret politische Vorstösse von den Parlamentsabgeordneten? «Wir hoffen in erster Linie auf einen intensiven Dialog, und dass seitens Parlament möglichst viele Personen aus allen politischen Lagern teilnehmen werden», sagt Marcel Falk. Der Anlass sei für die Bundesversammlung selbstverständlich nicht Pflicht. «Aber er ist hoffentlich ein ‹Booster›, auf den Diskussionen zu spezifischen Themen in Kommissionen und andernorts folgen.» Der Anlass sei aber auch von der Symbolik her wichtig: Um zu zeigen, dass man einen Bogen zwischen Wissenschaft und Politik schlage, den bisherigen Dialog vertiefe. «Wir fangen zwar nicht bei null an», sagt Falk. «Doch gerade, wenn es darum geht, Lösungen zu erarbeiten, ist ein noch intensiverer Austausch sinnvoll. Wir können in der Schweiz die Kompetenzen aus der Wissenschaft noch besser nutzen.»

Jene abwählen, denen die Zukunft egal ist

Etwas konkreter – und auch pathetischer – wird Guillermo Fernandez, auf seine Erwartungen angesprochen: «Ich erwarte, dass alle Parlamentarier, denen das Wohlergehen unserer Kinder am Herzen liegt, die Fakten zum Klimawandel verstehen, damit sie unser Land verantwortungsvoll lenken können.» Und: «Für die Parlamentarier, die sich nicht die Mühe machen, zu kommen, erwarte ich, dass die Aussagen der Anwesenden zur Kenntnis genommen werden.» Er hoffe, dass die Bevölkerung gewillt sei, «all unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft zu hinterlassen und bei den nächsten Parlamentswahlen diejenigen abzuwählen, denen der Schutz der künftigen Generationen, unserer Kinder und Enkel, nicht wichtig genug ist».

«Ich erwarte, dass alle Parlamentarier, denen das Wohlergehen unserer Kinder am Herzen liegt, die Fakten zum Klimawandel verstehen, damit sie unser Land verantwortungsvoll lenken können.»

Vom Austausch wünscht der Klimaaktivist sich in erster Linie Mut: «Mut von unserem Parlament, endlich wahrheitsgemäss über die katastrophale Situation des Klimawandels und der biologischen Vielfalt zu sprechen. Mut, verantwortungsvolle Massnahmen zum Schutz der Zukunft unserer Kinder zu planen, zu finanzieren und zu verteidigen. Mut von unseren Mitbürgern, die ignoranten und unverantwortlichen Politiker zur Rechenschaft zu ziehen, die sich derzeit dafür einsetzen, die Zukunft unserer Kinder zur Hölle zu machen.»

Die Fakten auf den Tisch – nach jeder Neuwahl

Bei so viel Engagement stellt sich die Frage: Ist das Treffen von Wissenschaft und Politik als einmaliger Anlass gedacht, oder braucht es eine Fortsetzung – vielleicht sogar in regelmässigen Abständen? «Das sollte eigentlich nicht nötig sein», findet Fernandez. «Jeder, der unser Land führen will, sollte darauf erpicht sein, über die wichtigsten Parameter informiert zu werden, die unsere Zukunft beeinflussen.» Bildlich ausgedrückt: «Jeder verantwortungsbewusste Erwachsene würde das Handbuch lesen, bevor er eine so grosse Maschine bedient», sagt er. Trotzdem könnte es je nachdem notwendig sein, jeweils nach den Wahlen von neuen Parlamentsmitgliedern «eine obligatorische Präsentation der Fakten durchzuführen», schildert der Westschweizer. Er scheut sich nicht, Kritik anzubringen: «Wir wissen aus Erfahrung, dass unser Parlament nicht immer nach den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt. Auch wenn in der Politik viele in Interessen verstrickt sind, die denen unserer Kinder entgegenstehen, nehmen wir mal an, dass sie letztlich einfach unwissend sind.»

«Wir haben die Kinder im Stich gelassen»

Und wie denkt der 47-Jährige an seinen Hungerstreik vom letzten Dezember zurück? «Ich bin froh, dass ich überlebt habe», sagt der vierfache Familienvater. «Ich bin dankbar für alle Erwachsenen, die mich unterstützt und mir geholfen haben und die mir so viel Freude auf den Bundesplatz gebracht haben.» Und er entschuldige sich im Namen seiner Generation und der vorhergehenden bei all den Kindern und Jugendlichen, die ihn besucht hätten. «Wir haben sie im Stich gelassen. Jetzt ist es unsere letzte Chance, unsere Pflicht zu erfüllen, verantwortungsvolle Erwachsene zu sein und unseren Kindern Hoffnung zu geben.»

Öffentlicher Live-Stream zur Veranstaltung von heute 13.30 Uhr: https://naturwissenschaften.ch

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