Das musst du wissen

  • Eine Studie 2017 hatte gezeigt: Zuviel Zeit mit digitalen Medien mache Jugendliche depressiv.
  • Doch nun entdeckten Psychologen: Die Forschungsresultate sind verzerrt. Sie hängen stark von der Analysemethode ab.
  • Viel Zeit am Bildschirm ist wohl nicht per se schlecht für die Psyche, sondern deutet meist auf tiefere Probleme hin.

Viele Eltern sorgen sich darüber, dass ihre Kids zu viel am Smartphone oder vor dem Computer hängen. Tatsächlich zeigte eine Studie 2017: Je mehr Zeit Jugendliche am Bildschirm verbringen, desto eher sind sie depressiv und sogar suizidgefährdet. Doch nun untersuchten die britischen Psychologen Amy Orben und Andrew Przybylski unter anderem denselben Datensatz, auf den sich die erwähnte Studie von 2017 stützte, neu.

Der Datensatz enthielt Umfragen, in denen Hunderttausende von Jugendlichen darüber Auskunft gaben, wieviel Zeit sie mit digitalen Medien verbringen. Aber sie machten auch Angaben zu ihrem Geschlecht, dazu, ob sie Marihuana konsumieren, ob sie in Schlägereien geraten, ob sie Frühstück und wie häufig sie Kartoffeln essen, ob sie an Depressionen leiden, sich einsam fühlen und vieles mehr.

Brille tragen ist schlimmer

In der neuen Studie berücksichtigten die britischen Psychologen alle diese Lebensgewohnheiten und stellten fest: Ja, zu viel Zeit am Bildschirm hat einen negativen Einfluss auf das mentale Wohlergehen von Jugendlichen. Aber dieser Effekt ist sehr klein. So klein, dass selbst das Tragen einer Brille einen negativeren Einfluss auf die Psyche hat, als digitale Technologien.

Ja, was denn nun? Habe Geduld, am Ende des Artikels weisst du mehr. Doch vorerst versetze dich bitte in die Situation eines Forschenden. Du möchtest den Einfluss digitaler Technologien verstehen. Da du vermutest, dass diese Depressionen auslösen, kannst du nicht einfach eine Gruppe Jugendlicher zehn Stunden vor einen Bildschirm setzen und sie dann mit einer Kontrollgruppe vergleichen – das wäre unethisch. Aber zum Glück gibt es den erwähnten grossen Datensatz, den du auswerten kannst.

Wissenschaftler unter Druck

«Bei der Auswertung eines solchen Datensatzes müssen Forschende sehr viele Entscheidungen treffen», sagt Carolin Strobl, Statistikerin an der Universität Zürich. Zum Beispiel, ob sie den Einfluss von Bildschirmzeit für Jungen und Mädchen getrennt anschauen möchten oder nicht. «Nicht immer kommt bei der gewählten Auswertung ein interessantes Resultat heraus». Doch genau danach suchen die Forschenden: «Negative Ergebnisse sind leider immer noch schwer zu publizieren, und ohne Publikationen stehen die Forscher bald ohne Job da», sagt Strobl.

Carolin Strobl

Statistikerin


Carolin Strobl ist Professorin am Psychologischen Institut der Universität Zürich und dort Leiterin der Fachrichtung Psychologische Methodenlehre, Evaluation und Statistik.

An den Einstellungen schrauben

Was machst du als Forschende also? Du gehst vielleicht zurück und wählst so lange andere Einstellungen für die Analyse, bis du auf ein interessantes Ergebnis triffst.

Dieses Verhalten – auch p-hacking genannt – ist zwar schlechte wissenschaftliche Praxis, könnte aber einen Teil der Uneinigkeit in Studien erklären, sagt Carolin Strobl. Aber ein weiteres Problem sei, dass bei so grossen Datensätzen auch sehr kleine Effekte statistisch signifikant seien, die vom Leser dann als «wahr» interpretiert werden. Ein fiktives Beispiel: Ein Medikament hilft 10 von 10’000 Menschen, das Placebo hilft 5 von 10’000. Dieses Ergebnis ist zwar statistisch signifikant – um ein gutes Medikament handelt es sich aber trotzdem nicht.

Machen Kartoffeln depressiv?

Du kannst die Perspektive der Wissenschaftler nun übrigens wieder verlassen. Denn du weisst nun: Das Ergebnis, dass zu viel Zeit am Bildschirm die Psyche Jugendlicher negativ beeinflusst, ist nur eines von vielen möglichen Ergebnissen. Und der beobachtete Effekt ist sehr klein.

Bei ihrer erneuten Analyse trieben es die britischen Forschenden dann bewusst auf die Spitze: Sie analysierten die Zusammenhänge zwischen allen möglichen Antworten der Umfragen. Je nach Einstellungen kam zum Beispiel heraus, dass die Bildschirmzeit genauso negativ mit der psychischen Gesundheit in Zusammenhang steht, wie das Essen von Kartoffeln. Das ist offensichtlich absurd. Mit ihrem Ansatz wollen die Autoren aber bewusst zur Diskussion über die Interpretation psychologischer Studien anregen.

Bildschirmzeit: Symptom und nicht Ursache

«Ich finde diese Studie sehr wichtig», sagt dazu die Medienwissenschaftlerin Sarah Genner von der Pädagogischen Hochschule Zürich. Denn sie zeige auch, dass Zusammenhänge nicht immer ursächlich sein müssen. Zwar verbringen depressive Jugendliche möglicherweise sehr viel Zeit mit digitalen Technologien. «Eine exzessive Nutzung kann aber eher ein Symptom eines tieferliegenden psychischen Problems sein und nicht dessen Ursache.» So wie Kiffen oder starker Alkoholkonsum könne der übermässige Gebrauch digitaler Medien auch eine Strategie sein, um mit Problemen fertig zu werden.

Sarah Genner

Medienwissenschaftlerin


Sarah Genner beschäftigt sich mit digitalen Medien und Medienpsychologie. Sie ist Dozentin an verschiedenen Instituten, unter anderem lehrt sie an der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Zwar ist Genner dafür, die Bildschirmzeit von Jugendlichen zu begrenzen, dies jedoch, damit diese genug Schlaf bekämen und andere wichtige Erfahrungen jenseits des Bildschirms machen könnten. «Die zentrale Frage sollte nicht ‹wie lange› sein», sagt Genner. Viel wichtiger sei, welche Inhalte die Teenager konsumieren und ob sie das tun, um Problemen aus dem Weg zu gehen.

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