Früh übt sich, was ein Meister werden will! Davon sind wohl die meisten Menschen überzeugt. In der Jugend fällt es uns noch leicht, Neues zu lernen, mit den Jahren aber baut das Gehirn immer mehr ab. Doch beides stimmt nicht. Das zeigten in den letzten Jahren mehrere Studien aus der Hirnforschung. So etwa ein Experiment von Neurowissenschaftlern des University College in London. Die Forscher verglichen, wie gut Menschen im Alter zwischen 11 und 33 Jahren Denkaufgaben lösen – und wie viel sie durch intensives Üben dazulernen. So trainierten die insgesamt 633 Probanden 20 Tage lang jeweils während zehn Minuten gezielt bestimmte Fähigkeiten, beispielsweise das logische Denken. Dazu mussten sie aus diversen Formen jene auswählen, die geometrisch zusammengehören. Nach dem Training folgten Tests. Und dort schnitten Erwachsene zwischen 18 und 33 Jahren klar besser ab als Kinder und Jugendliche.

«Das liegt daran, dass die Entwicklung gewisser geistiger Fähigkeiten mit der Pubertät noch nicht abgeschlossen ist», sagt die Psychologin Delia Fuhrmann, Mitautorin der Studie. «Kein Wunder also, fällt Kindern das logische Denken noch schwer.»

Das menschliche Gehirn ist ein Spätzünder

Das lässt sich auch direkt im Gehirn selbst ablesen, sagt der Neurowissenschaftler Dominique de Quervain, Leiter der Gehirn-Forschungsplattform der Uni Basel. Die Reifung des Gehirns dauert im Gegensatz zu anderen Organen unseres Körpers nämlich Jahrzehnte: So ist etwa der sogenannte präfrontale Cortex – die Hirnregion, in der das logische Denken stattfindet – erst mit 25 Jahren voll ausgebildet. «Daher haben Erwachsene für komplexe Denkaufgaben schlicht die bessere Voraussetzung als Kinder», sagt de Quervain.

Auch in anderen Bereichen erreicht die Hirnleistung der Menschen den Höhepunkt erstaunlich spät im Leben. Das zeigten Wissenschaftler der Universität Harvard 2015 in einer Studie mit über 50000 Probanden. Die hohe Teilnehmerzahl erreichten sie dank der eigens dafür erstellten Webseite Testmybrain.org. Dort können Freiwillige ihre geistige Fitness testen und sich mit anderen messen. Die Forscher erhielten so eine Menge Daten für mehr als 20 verschiedene Gehirnfähigkeiten – vom sprachlichen Können über das mathematische Denken bis hin zum Einschätzen der Gefühle anderer Personen. Die Neurologen beobachteten, dass fast jede der untersuchten Fähigkeiten ihren Höhepunkt zu einer anderen Zeit im Leben erreicht (siehe Grafik).

Hartshorne, Germine, APS 2015

Je nach Alter sind wir in unterschiedlichen Denkfähigkeiten stark.

Jedem Lebensabschnitt seine Rekordleistung

Beispielsweise ist die Fähigkeit, Informationen schnell zu verarbeiten, bei Menschen um die 18 Jahre am grössten. Das Kurzzeitgedächtnis hingegen verbessert sich kontinuierlich bis zum Alter von 25 Jahren, bleibt dann auf dieser Höhe bis etwa 35, bevor es wieder abnimmt. Diese Ergebnisse bestätigten bereits früher durchgeführte Experimente. Doch die Tests förderten auch erstaunliche Resultate zutage. So entfaltet sich das Vermögen, die Gefühle anderer Menschen richtig einzuschätzen, erst zwischen 40 und 50 Jahren vollständig. Und wenn es darum geht, die Bedeutung von Wörtern zu verstehen, haben sogar fast 70-Jährige die Nase vorn. Zwar war schon vorher bekannt, dass der Wortschatz von Menschen bis ins Erwachsenenalter wächst, doch dass er sich fast lebenslang verbessert, war auch für die Forscher eine Überraschung.

Allerdings lassen sich solche Testergebnisse nicht einfach so in unseren Alltag übertragen, wie der Neurologe de Quervain zu bedenken gibt: «Sie liefern zwar Hinweise, wie Denkprozesse funktionieren», sagt er. «Im alltäglichen Leben kann es aber nochmals anders aussehen.» Denn während in Studien nur ganz spezifische Fähigkeiten getestet werden können, stellt der Alltag vielseitigere Herausforderungen an unser Denkorgan, beispielsweise beim Erlernen einer Fremdsprache. Hier zeigen de Quervains eigene Untersuchungen, dass unsere Fähigkeit, neue Wörter zu lernen, zwischen 20 und 30 abzunehmen beginnt. «Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass man im Alter keine Sprache mehr lernen kann», sagt der Hirnforscher. Denn für eine Fremdsprache brauche es nicht nur das Auswendiglernen, sondern eine Kombination verschiedener geistiger Fähigkeiten. So müsse man auch die logischen Regeln der Grammatik mit all ihren Ausnahmen verstehen, einen Sinn für die Sprachmelodie und ein Gefühl für die Sprache entwickeln. Und das können ältere Menschen oft besser als junge.

Gehirntraining entpuppt sich als Mythos

Hinzu kommt, dass die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen teils enorm gross sind. «Manche Leute können gewisse Dinge mit 50 immer noch besser als andere mit 20», sagt de Quervain. Eines jedoch bestätigen diese beiden und weitere Studien klar: Das Üben einer bestimmten Denkfähigkeit, etwa das fleissige Lösen von Sudokus, färbt nicht auf andere Bereiche ab. Genau wie beim Fitnesstraining: «Wenn jemand die Oberarme trainiert, kann er danach auch nicht schneller rennen», sagt de Quervain. Dementsprechend kann man durch das Sudoku-Training einzig eines besser – nämlich Sudokus lösen. Daher solle man seine Zeit lieber mit dem Lernen derjenigen Dinge verbringen, die man wirklich erreichen will.

Die Erstversion dieses Beitrags erschien am 11. November 2016.
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