Nahrungsmittel-Multi Nestlé hat sein Portfolio abgerundet: 2017 kaufte der Branchenprimus mit Sitz in Vevey für rund 2,3 Milliarden Dollar den kanadischen Hersteller von Vitaminpräparaten und Nahrungsergänzungsmitteln Atrium Innovations. Mit 700 Millionen Jahresumsatz ist Atrium für Nestlé zwar nur ein kleiner Fisch – das grösste Industrieunternehmen der Schweiz setzt jährlich insgesamt fast 90 Milliarden Dollar um.
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Der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern aber kann den Trend nicht ignorieren: Im Geschäft mit dem vermeintlichen Mangel winken Wachstumsraten von bis zu sieben Prozent. «Die Entwicklung hin zu einem gesundheitsbewussteren Konsumenten schafft ein riesiges Marktpotenzial, das ein breites Spektrum von Unternehmen zu Forschung und Neuentwicklungen herausfordert», schreiben Analysten des Finanzdienstleisters Robecosam in der Wirtschaftszeitung Handelsblatt.
Die Autorinnen einer 2018 erschienenen Trendanalyse des Schweizer Bauernverbands (SBV) zum Nahrungsmittelverbrauch in der Schweiz vermuten, dass «sich ein grosser Teil der Bevölkerung mit zusätzlichen Vitaminen und Spurenelementen aus Nahrungsergänzungsmitteln versorgt». Entsprechende Daten aber wurden in unserem Land noch nicht erhoben. In den USA – wo genaue Zahlen vorliegen – nehmen 50 Prozent der Erwachsenen regelmässig ein oder mehrere Supplemente zu sich: fast die Hälfte, um ihre Gesundheit «zu verbessern», rund ein Drittel, um sie «zu erhalten», aber nicht einmal ein Viertel aufgrund der Empfehlung einer medizinischen Fachperson.
Nutzerinnen und Nutzer von Nahrungsergänzungsmitteln berichteten in einer Umfrage im Auftrag des US-Gesundheitsministeriums von «guter» oder «ausgezeichneter» Gesundheit, von mässigem Alkoholkonsum, Verzicht auf Zigaretten und regelmässiger sportlicher Aktivität. Sie wären also gar nicht auf die Zufuhr zusätzlicher Vitamine oder Mineralstoffe angewiesen, denn: «Gesunde Menschen brauchen keine Ernährungsergänzungsmittel», erklärt der Ernährungsphysiologe von der Universität Bonn, Peter Stehle, ergänzt aber: «Das ist ein Milliardenmarkt.» Er warnt: «Die Verwendung von hoch dosierten Nahrungsergänzungsmitteln kann bei unkontrollierter, medizinisch nicht motivierter Gabe das Risiko für ernsthafte Erkrankungen erhöhen.»
«Unsere Daten zeigen, dass die Einnahme hoher Dosen von Vitamin B6 und B12 über längere Zeit zu einem Anstieg der Lungenkrebsinzidenz bei männlichen Rauchern beitragen kann», fasst Theodore Brasky, Internist am Ohio State University Comprehensive Cancer Center in Columbus die Ergebnisse einer Kohortenstudie zusammen, die er und sein Team 2017 im Journal of Clinical Oncology veröffentlicht hatten.
Der Teufel liegt im Detail
Brasky räumt ein, dass es dabei um Mengen geht, die deutlich über den in Multivitamintabletten enthaltenen Tagesdosen liegen. Die über 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie hatten über einen Zeitraum von zehn Jahren täglich hoch dosierte Vitaminpräparate – 20 Mikrogramm Vitamin B6 und bis zu 55 Mikrogramm Vitamin B12 – zu sich genommen. Gefunden wurde ein Zusammenhang von hoch dosierter Supplementierung und Lungenkrebs bei Männern – nicht jedoch bei Frauen. Männer aber mit hohem Vitamin-B-Konsum zeigten ein doppelt so hohes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Raucher, die ihre Gesundheit mit Vitamin-B-Präparaten verbessern wollten, setzten sich sogar dem drei- bis vierfachen Risiko aus.
Der Council for Responsible Nutrition (CRN), eine Vereinigung von Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln und Functional Food in den USA, reagierte schnell auf die Meldung und mahnte Konsumentinnen und Konsumenten, «sich durch die Schlagzeilen der Sensationspresse nicht beeinflussen zu lassen». Auch Jennie Jackson, Dozentin für Humanernährung und Diätetik an der Glasgow Caledonian University, beruhigt Konsumentinnen und Konsumenten, dass die Studie keinen ursächlichen Zusammenhang bewiesen habe – dazu bedürfte es eines experimentellen Studiendesigns. Sie stellt aber klar: «Wenn stark überhöhte Dosen einzelner Vitaminpräparate mit B6 und B12 tatsächlich Krebs fördern sollten, wäre das nicht das erste Mal, dass Überdosierungen einen schädlichen Einfluss haben.» Jackson vermutet, dass Nahrungsbestandteile, die in alltäglichen Nahrungsmitteln zur Krebsprävention beitragen, als aufgereinigte und konzentrierte Supplemente womöglich Schaden anrichten.
Auch die Experten um Fan Chen von der Friedman School of Nutrition Science and Policy an der Tufts University in Boston schliessen nicht aus, dass in ihrer repräsentativen Studie vom vergangenen Jahr mit Daten des National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) trotz statistischer Korrektur «Störfaktoren» zum Tragen kommen – aber auch sie stiessen auf einen Zusammenhang von Krebserkrankungen und hoch dosierten Supplementen, in diesem Fall von Kalzium. Darüber, wie eng dieser Zusammenhang ist, wird in der Fachwelt derzeit heftig gestritten. Sicher belegen aber konnten Chen und sein Team, dass «die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln generell nicht mit einer Abnahme der Mortalität assoziiert» ist. Das heisst: Auch wenn sie vielleicht doch nicht schaden – sicher ist, dass diese hoch dosierten Supplemente keine lebensverlängernde Wirkung haben.
Was zu viel ist, ist zu viel
«Trotzdem müssen wir bei jeder Diskussion über den Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln wieder darauf hinweisen, dass diese Produkte aus der Apotheke oder dem Supermarkt nichts bringen», klagt der Kardiologe Christopher Labos vom Queen Elizabeth Health Complex im kanadischen Montréal in einem Artikel auf dem Fachportal Medscape. Um seine Aussage zu unterstreichen, zitiert er mehrere Studien: Keinen Unterschied zwischen Betacarotin und Placebo hinsichtlich der Häufigkeit von kardiovaskulären Erkrankungen, Krebs oder der Gesamtmortalität ergab die Auswertung einer Untersuchung an über 20 000 Männern über einen Zeitraum von zwölf Jahren, deren Ergebnisse seit 1996 vorliegen. Eine Studie mit rund 40 000 Teilnehmerinnen aus demselben Jahr fand für den gleichen Wirkstoff keinen Nutzen in Bezug auf Schlaganfälle, Myokardinfarkte oder kardiovaskuläre Sterblichkeit.
Auch die Bilanz der Antioxidantien Vitamin C und E in gross angelegten Untersuchungen ist ernüchternd, und zunehmend zweifelt die Wissenschaft auch an der sagenhaften Wirkung des Wundermittels Vitamin D. «Wir haben gedacht, dass viel auch viel hilft», erläutert Heike Bischoff-Ferrari, Professorin für Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich, die Ausgangslage für ihre Studie von 2016, die aufzeigen sollte, dass Vitamin-D-Präparate die Beweglichkeit von Seniorinnen und Senioren verbessern können. Entgegen der Annahme aber bewirkten hoch dosierte Spritzen das Gegenteil – obwohl nur diese Mengen den von Ärzten zur Vorbeugung von Knochenleiden empfohlenen Spiegel im Blut von 45 Nanogramm Vitamin D pro Milliliter zu erreichen vermochten.
Besser erging es jenen der über 70-jährigen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die nur die normale Dosis erhalten hatten: Ihre Beweglichkeit hatte sich verbessert und sie stürzten signifikant weniger. Vitamin-D-Präparate in Kombination mit Kalzium-Supplementen könnten das Risiko eines Schlaganfalls sogar erhöhen, ergab eine andere Untersuchung. Dass aber Vitamin D depressive Symptome lindert und für Babys im ersten Lebensjahr der Stoff überlebenswichtig ist, bestreitet niemand. Deshalb zeigt sich am Vitamin D das Dilemma von Wissenschaft und Industrie sehr deutlich: Für bestimmte Bevölkerungskategorien, Altersgruppen und bei spezifischen Vorerkrankungen kann ein Mangel durchaus bedeutsam sein und seine Behebung Teil von Therapie und Behandlung. Die vorsorgliche Supplementierung und die flächendeckende Versorgung der allgemeinen Bevölkerung aber schiesst weit über das Ziel hinaus und hat unter Umständen schädliche Folgen.
Wissen und glauben
Ungeachtet dieser Erkenntnisse aber steigt der Absatz: 133 Milliarden US-Dollar setzen die Hersteller weltweit jährlich mit Nahrungsergänzungsmitteln um. Der Absatz von Vitamin-D-Präparaten hat sich seit 1999 vervierfacht. Die beliebteste Gruppe der Omega-3-Produkte konnte die Verkäufe im gleichen Zeitraum sogar um das Zehnfache steigern. Die Daten von NHANES geben auch Aufschluss darüber, warum Konsumentinnen und Konsumenten immer öfter zu Supplementen greifen – und offenbaren Ambivalenzen.
80 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu: «Multivitamin- und Mineralstoffpräparate sollten nicht als Ersatz für gesunde Ernährungs- und Lebensgewohnheiten dienen», drei Viertel sind der Ansicht, dass diese Präparate «nicht dazu bestimmt sind, Krankheiten zu heilen», aber nur ein Viertel würde auf die Einnahme verzichten, wenn die Gesundheitsbehörden ein Nahrungsergänzungsmittel für unwirksam erklärten.
Für Labos aber beginnen die Widersprüche in den Arztpraxen. Einer Umfrage unter Internisten und Rheumatologen zufolge verschrieben fast 40 Prozent der Ärzte Vitamine als Placebo und beschrieben sie Patientinnen und Patienten gegenüber als «potenziell nützlich», entrüstet sich der Kardiologe: «Wir müssen die Öffentlichkeit immer wieder daran erinnern, dass die routinemässige Anwendung von Multivitaminpräparaten teuer und unnötig ist. Und wir müssen auch unsere Kollegen daran erinnern.»
Angereicherte Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Arzneimittel: Was ist was und was ist drin?
Cui bono?
Während in den Industriestaaten kaum mehr jemand unter einem effektiven Mangel leidet, ist die Unterversorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen im Globalen Süden weiterhin ein grosses Problem. UN-Organisationen, Regierungen und multinationale Grosskonzerne wollen gemeinsam dagegen vorgehen – unklar ist, wer dabei am meisten profitiert.
«Goldener Reis» würde Millionen Kinderleben jährlich retten, hoffte im Jahr 2000 das Magazin Time in einem Bericht über die neu entwickelte Reissorte, die dank einem gentechnischen Verfahren erhöhte Mengen Betacarotin – eine Vorstufe des für den Menschen essenziellen Vitamin A – enthält. Der von der ETH Zürich und der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg entwickelte und patentierte «Golden Rice» wird heute vom Agrar- und Ernährungswirtschaftskonzern Syngenta vertrieben. Der gentechnisch modifizierte Reis kann nach Angaben der Herstellerfirma nach dem Einkreuzen in lokale Sorten von den Landwirten selbst vermehrt und lizenzfrei angebaut werden.
Allerdings verlief eine Studie einer Forschungsgruppe um die Agrargenetikerin Haritha Bollineni vom Indian Agricultural Research Institute zur Anwendung des «Golden Rice» bei der Einkreuzung in die ertragreiche indische Reissorte Swarna enttäuschend: Wegen massiven Wurzelschäden, ausgebleichten Blättern und ungewollten Seitentrieben erreichte der gentechnisch veränderte Reis bloss die halbe Wuchshöhe, kam später im Jahr zur Blüte und war halb so fruchtbar wie die herkömmliche Sorte. Insgesamt fiel die Ernte um zwei Drittel geringer aus als bei der traditionellen Reissorte Swarna.
Gut gemeint?
Zweifel an der Berechenbarkeit gentechnischer Modifikationen im Erbgut von Nutzpflanzen ist aber nur ein Teil der Kritik am internationalen Trend, dem Hunger und der Mangelernährung in der Welt durch mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Grundnahrungsmittel entgegenzuwirken. Naturschutz- und Menschenrechtsorganisationen hegen den Verdacht, dass Grosskonzerne die Allianzen mit Staatsregierungen, multinationalen Organisationen und Hilfswerken nur eingehen, um für sich neue Anbauflächen und Märkte zu erschliessen.
Die Neue Allianz für Ernährungssicherheit und Ernährung (New Alliance for Food and Nutrition, NAFSN) beispielsweise – im Mai 2012 unter der Schirmherrschaft der G8-Staaten gegründet – erleichtert unter anderem den Zugang zu Land für Grosskonzerne, fördert zertifiziertes Saatgut und Steuerreformen, die private Investitionen in die Landwirtschaft erleichtern. Als Partner treffen sich in der NAFSN die Weltbank, die Kommission der Afrikanischen Union und die Internationale Arbeitsorganisation ILO. Beteiligt sind aber auch Unternehmen wie Nestlé, Heineken oder Monsanto, die mit Investitionen in Milliardenhöhe winken.
Die internationale Menschenrechtsorganisation Food First Informations- und Aktions-Netzwerk (FIAN) allerdings kritisiert, dass mit dieser Politik traditionelle Strukturen zerstört würden – so stammten zurzeit in Afrika noch 90 Prozent des Saatgutes aus eigener Ernte und lokalen Tauschkreisen. Die Förderung zertifizierten Saatgutes vertreibe einheimische Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die die lokale Sortenvielfalt erhalten und eine wichtige Rolle spielen bei der Versorgung der Bevölkerung mit einer vielfältigen Ernährung, dem besten Mittel im Kampf gegen die Mangelernährung.
FIAN fordert, stattdessen die strukturellen Ursachen anzugehen: der lokalen Bevölkerung den Zugang zu den Ressourcen Land, Wasser und Saatgut zu gewähren, eine biologisch vielfältige kleinbäuerliche Landwirtschaft zu fördern und nicht zuletzt die Frauenrechte zu stärken. Denn Frauen seien zusammen mit den Kindern nicht nur am meisten von der Mangelernährung betroffen. Die Menschenrechtsorganisation sieht in ihnen innerhalb traditioneller Strukturen auch die Schlüsselakteurinnen in deren Bekämpfung.