Das musst du wissen

  • Die Gedankenschmiede Reatch hat Anfang März 2021 das Franxini-Projekt lanciert.
  • Es will den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik fördern, um Spannungen und Missverständnisse zu vermeiden.
  • Die meisten grossen Parteien, von den Grünen bis zur SVP, sowie mehrere Forschende unterstützen das Projekt.

Warum dies willkommen ist. Die Covid-Krise stellt das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik auf eine harte Probe.  Am 26. Februar schlug der Nationalrat vor, die Information der Bevölkerung über die Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie allein dem Bundesrat und Parlament zu überlassen. Im Visier waren die wissenschaftliche Task Force und die Rolle, die sie in der medialen Diskussion einnahm. Seit Beginn der Krise bedauerten Wissenschaftler regelmässig, dass die Politik sie zu wenig berücksichtigt. Haben Wissenschaft und Politik aneinander vorbeigeredet?

Worum es geht. Die Gedankenschmiede Reatch wurde 2014 gegründet, um die Wissenschaftskultur in der Gesellschaft zu fördern, insbesondere durch öffentliche Veranstaltungen und Workshops. Dies ist auch eine politische Mission. «Wissenschaftler müssen sich an der direkten Demokratie beteiligen und proaktiv kommunizieren», sagte ihr Gründer Servan Grüninger 2018 dem Magazin Horizonte. «Es hat mich gestört, dass viele Akademiker nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative das Volk als dumm bezeichnet haben. Kurz darauf haben wir den Verein gegründet.»

Eine gute Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse war schon immer unerlässlich, um sie in konkrete Strategien umzusetzen, die Finanzierung aufrechtzuerhalten und Einfluss auf die Wissenschaftspolitik zu haben. Aber mit der Covid-19-Gesundheitskrise ist der Austausch zwischen Wissenschaftlern und Politikern viel angespannter geworden. Wir erinnern uns an den Epidemiologen Christian Althaus, der bei seinem Ausscheiden aus dem wissenschaftlichen Arbeitskreis im Januar verärgert forderte, «dass die Politik endlich lernen soll, die Wissenschaft auf Augenhöhe zu betrachten».

Inzwischen hat sich die Situation zugespitzt: Ein Vorschlag der Wirtschaftskommission des Nationalrats (WAK-N) will indirekt verhindern, dass die Mitglieder der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe über Massnahmen des Bundes gegen die Pandemie kommunizieren. Es überrascht nicht, dass diese Entscheidung von einem Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft und Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums schlecht ankam. Reatch hatte seinerseits in einer Medienmitteilung «Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit beklagt, die nicht nur effektive Lösungen untergraben, sondern auch im Widerspruch zu den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates stehen».

Ein Dialog ist daher schwierig. Auch können wir uns an die erbitterten Debatten erinnern, die zum CO₂-Gesetz geführt haben. Dies verdeutlicht Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rats, der das Reatch Projekt mit dem Namen Franxini unterstützt und in der Medienmitteilung zitiert wird:

«Wissenschaftliche Expertise ist ein wesentliches Element bei der Lösung von gesellschaftlichen Problemen. Aber Wissenschaft und Politik haben unterschiedliche Kulturen. Es bedeutet einen Balanceakt zwischen theoretischer Präzision und politischer Wirksamkeit.»

Dies entspricht auch der Meinung des Klimaphysik-Professors Reto Knutti, der das Projekt ebenfalls unterstützt und in der Pressemitteilung zitiert wird:

«Wenn man sich als Wissenschaftler in die politische Debatte einmischt und sachliche Daten beisteuert, muss man nicht nur der erbrachten Evidenz treu bleiben, sondern auch über ein gewisses politisches Know-how verfügen, um gehört zu werden.»

Das Projekt. Ziel ist es, die Spielregeln der Politik zu vermitteln, die den Forschern, selbst den Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet, nicht immer bewusst sind. «Die Covid-Krise hat uns gezeigt, dass die wissenschaftliche Kommunikation nicht ausreicht, dass wir weiter gehen müssen», sagte Anna Krebs, Projektleiterin bei Reatch, gegenüber Heidi.news.

«Unsere Idee ist es, der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein besseres Verständnis dafür zu vermitteln, wie die politische Welt funktioniert, um Missverständnisse zu begrenzen und die Zusammenarbeit zu erleichtern. Denn rohe Fakten reichen nicht immer aus: Sie müssen auf relevante Weise präsentiert werden.»

Marc Hohmann, Co-Direktor für Politik im Reatch-Komitee, erklärt das Problem genauer:

«Es hat in den letzten Monaten Zeiten gegeben, in denen sich Forscher in politischen Debatten geäussert haben, ohne sich dessen klar bewusst zu sein. Eine rein wissenschaftliche Perspektive gibt es im politischen Spiel nicht: Die Ergebnisse allein reichen nicht aus, sie müssen erklärt werden. Sie müssen auch die unterschiedlichen Interessen, Werte und Ziele der verschiedenen politischen Akteure berücksichtigen.»

Ein Punkt, den der Epidemiologe Marcel Salathé für Heidi.news veranschaulichte, als er seinen Austritt aus der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe und den Start seiner eigenen Organisation CH++ kommentierte.

«Ich war etwas überrascht, sogar naiv, als unser Feedback als kritisch wahrgenommen wurde. In der Wissenschaft ist es üblich, konstruktive Kritik an der eigenen Arbeit zu erhalten. Sie ist dazu da, Dinge zu verbessern und voranzutreiben.»

Und Anna Krebs ergänzt: «Die Forschung in der Schweiz ist sehr international. Aber ausländische Wissenschaftler haben nicht unbedingt eine klare Vorstellung davon, wie die Schweizer Politik funktioniert, während die Politik von ihrem Fachwissen sehr profitieren würde.»

Reatch hat drei Hauptaktionslinien:

  • Ein Policy Innovation Hub, ein partizipatives Programm, in dem wissenschaftliche Ideen und entsprechende politische Massnahmen dank der Zusammenarbeit von Menschen aus der akademischen und politischen Welt ausgetauscht werden.
  • Ein Politik-Bootcamp, das die Forscher informiert, wie das politische System der Schweiz funktioniert und wie man sich darin engagieren kann. Marc Hohmann gibt Details:

«Das derzeitige politische System bietet der akademischen Welt eine Reihe von Möglichkeiten, sich darin zu engagieren, und dieses Know-how wollen wir ihnen vermitteln. Es gibt zum Beispiel parlamentarische Ausschüsse, die Gesetze vorbereiten, ausserparlamentarische Ausschüsse oder Konsultationsphasen während des Gesetzgebungsprozesses. Auch öffentliche Stellungnahmen von Forschern sind eine Möglichkeit, sich in die politische Debatte einzubringen.»

  • Ein Polity Hive, eine Organisation für Veranstaltungen zur Förderung der Vernetzung zwischen verschiedenen Akteuren in Forschung und Zivilgesellschaft.

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Unterschiedliche Rollen. Die Unterscheidung sei essenziell, betont Marc Hohmann.

«Wenn es um öffentliche Entscheidungen geht, haben die demokratisch gewählten Politiker das letzte Wort. Aber die Rolle der Wissenschaftler ist es, die Grundlagen für diese Entscheidungen zu liefern. Manchmal gehen diese Entscheidungen über einfache Erklärungen hinaus, sie sind Empfehlungen. Wenn dies der Fall ist und sie auf Werten basieren, muss dies der Politik explizit kommuniziert werden. Und umgekehrt, wenn es Differenzen zwischen politischen Entscheidungsträgern und wissenschaftlichen Beratern gibt, sollten diese öffentlich gemacht werden.»

Das Franxini-Projekt weigert sich, politisch etikettiert zu werden. «Wir haben von den meisten grossen Parteien Unterstützung bekommen, von den Grünen bis zur SVP», sagt Anna Krebs. «Natürlich geht es nicht darum, mit ihnen zu streiten, sondern den Politikern den Dialog und die Zusammenarbeit mit der akademischen Welt in verschiedenen Fachbereichen zu ermöglichen. So können die beiden Welten ein Vertrauensverhältnis aufbauen.»

Mit Augenzwinkern. Das Franxini-Projekt hat seinen Namen von Stefano Franscini, einem Politiker und Akademiker des 19. Jahrhunderts: Er war Lehrer und Statistiker und gehörte dem ersten Schweizer Bundesrat an, der 1848 gewählt wurde. Als Tessiner Bauernsohn aus benachteiligten Verhältnissen erkannte er schon früh die zentrale Bedeutung von Bildung für das Gemeinwohl. Mit einem Fuss in beiden Welten war er davon überzeugt, dass politische Aktivitäten auf verlässlichen Informationen und sachlichen Analysen beruhen müssen. Als Bundesrat legte er den Grundstein für das heutige Bundesamt für Statistik und gründete die spätere Eidgenössische Technische Hochschule ETH.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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