Letzten Sommer nahm Beat Frey mit rund siebzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern an Bord eines russischen Eisbrechers an einer vom Swiss Polar Institute (Schweizerisches Polarinstitut) mitorganisierten Arktisexpedition teil.

Der Schweizer Forscher von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft konnte zum ersten Mal in sonst unzugängliche Gebiete der russischen Arktis reisen. «Wir waren auf abgelegenen und wenig bekannten Inseln. Es war eine sehr interessante Reise», sagt er.

Frey und sein Team sammelten Boden-, Permafrost-, Wasser- und Luftproben. «Wir sind mit einer Menge wertvoller Informationen in die Schweiz zurückgekehrt», sagt er. «Die Boden- und Vegetationsproben blieben jedoch in Russland.»

Diese Proben seien wichtig, um die chemischen Eigenschaften des Bodens zu bestimmen, sagt Frey, der sich spezialisiert hat auf die Untersuchung von Mikroorganismen im Boden und im Permafrost, der dauerhaft gefrorenen Bodenschicht. Er befürchtet jedoch, dass es wegen des Kriegs in der Ukraine schwierig sein wird, die Proben in die Schweiz schicken zu lassen.

«Ohne sie wird es schwierig, die von uns gesammelten Daten zu interpretieren. Es wäre ein Problem, zu wissen, welche Organismen dort leben, aber den Boden um sie herum nicht erforschen zu können», sagt er.

Seine Forschungen sind entscheidend für das Verständnis der Auswirkungen des rasch auftauenden Permafrosts – eines der Phänomene, welche die globale Erwärmung beschleunigen können.

Nach 13 Jahren weg aus der russischen Arktis?

Frey ist nicht der einzige Forschende, der durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine in Schwierigkeiten geraten ist. Hunderte von Kooperationen zwischen russischen und westlichen wissenschaftlichen Einrichtungen wurden vorübergehend ausgesetzt und zahlreiche Forschungsexpeditionen auf unbestimmte Zeit verschoben, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.

Der Arktische Rat, eine zwischenstaatliche Institution für die Verwaltung und die nachhaltige Entwicklung der Region nördlich des Polarkreises, hat vorübergehend alle seine Aktivitäten eingestellt. Der Rat setzt sich aus den acht arktischen Anrainerstaaten zusammen, Russland hat für den Zeitraum 2021-2023 den Vorsitz inne.

«Schon früher war es nicht einfach, für Forschungszwecke auf russisches Gebiet zu gelangen. Jetzt ist es noch komplizierter geworden», sagt Gabriela Schaepman-Strub, ausserordentliche Professorin für Erdwissenschaften an der Universität Zürich und wissenschaftliche Leiterin des Schweizerischen Polarinstituts. Selbst die Organisation von Tagungen, Workshops oder Konferenzen mit russischer Beteiligung ist jetzt schwieriger geworden, fügt sie hinzu.

Schweizer Forschung in der Arktis

Trotz ihrer Lage in der Mitte des europäischen Kontinents hat die Schweiz eine lange Tradition in der Polarforschung. Sie gehört heute zu den weltweit führenden Ländern in der Polarforschung. Im Jahr 1912 gelang dem Schweizer Alfred de Quervain die erste vollständige Durchquerung der grönländischen Eiskappe.
Die Schweizer Forschenden können auf ihr Wissen aus der Erforschung von Gletschern, Schnee und Permafrost in den Alpen zurückgreifen. In der Arktis hat die Schweizer Forschung zu Ergebnissen etwa bei der Rekonstruktion vergangener Klimatrends, der Eisdynamik in Grönland, den physikalischen Eigenschaften von Schnee in Sibirien und dem Einfluss des Schelfeises auf das globale Klima und Wetter beigetragen.
Das 2016 gegründete Swiss Polar Institute hat zum Ziel, das Wissen über die Pole zu verbessern und die internationale Zusammenarbeit zu fördern. Seit 2017 ist die Schweiz als Beobachterin beim Arktischen Rat dabei.

In diesem Sommer wird Schaepman-Strub nicht nach Nordostsibirien reisen können, wo sie seit mehreren Jahren die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Niederschläge und die Artenvielfalt untersucht.

Ihre Anwesenheit vor Ort ist nötig, um beschädigte Geräte zu ersetzen und die Kontinuität der Messungen zu gewährleisten. «Ich werde dieses Jahr nichts mehr für das Projekt tun können, und das könnte die bisher geleistete Arbeit zunichtemachen», sagt sie.

Die russischen Partnerinnen und Partner des Projekts versuchen zu retten, was zu retten ist. Aber die Sanktionen machen es unmöglich, ihnen finanzielle Beiträge zukommen zu lassen, mit denen unter anderem die Flüge zu den oft Tausende von Kilometern entfernten Forschungsstandorten bezahlt werden.

«Ich arbeite seit 13 Jahren in Russland und möchte nicht, dass die wenigen Messstellen, die wir in Sibirien haben, verloren gehen. Aber ich frage mich langsam, ob ich nicht anderswo in der Arktis arbeiten muss», sagt Schaepman-Strub.

Unverzichtbare Zusammenarbeit

Die Forscherin von der Universität Zürich sagt, dass es seit langem eine «enge Zusammenarbeit zwischen der russischen und der internationalen Wissenschaftswelt gibt, von der beide Seiten profitieren».

Die russische Seite liefert die Ausrüstung und kümmert sich um die gesamte Infrastruktur für die Durchführung der Forschungsarbeiten, einschliesslich der Eisbrecher. Sie bringe auch spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse mit, sagt Schaepman-Strub. So hat Russland beispielsweise eine lange Tradition im Bereich der Eiskern-Bohrungen – eine Technik, die in der Paläoklimatologie eingesetzt wird.

Für die Forschenden in der Arktis gilt es, keine Zeit zu verlieren. Im hohen Norden der Erde steigen die Temperaturen viermal schneller als im Rest der Welt. Während das schmelzende Eis neue Möglichkeiten für die Schifffahrt und die Gewinnung von Bodenschätzen eröffnet, wird das Auftauen des Permafrosts wahrscheinlich einen grossen Einfluss auf die globale Erwärmung haben.

Man schätzt, dass im arktischen Permafrost 1700 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gespeichert sind, doppelt so viel wie in der Atmosphäre. Wenn der Permafrostboden auftaut, könnte CO₂ in die Atmosphäre gelangen, was wiederum die globale Erwärmung beschleunigen würde.

«Zwei Drittel des arktischen Permafrosts liegen in Russland?»Gabriela Schaepman-Strub, Universität Zürich

Permafrost-Experte Beat Frey erklärt, dass arktische Böden sehr alt sind und grosse Mengen an Kohlenstoff enthalten. Wenn sich das Klima erwärmt, werden die Mikroorganismen reaktiviert und beginnen, den Kohlenstoff an die Atmosphäre abzugeben.

Bei diesem Prozess entstehen die Treibhausgase CO₂ und Methan. «Bei der Erforschung des Klimas ist es wichtig, die Dynamik dieser Prozesse zu verstehen, nicht zuletzt, weil sie eine globale Wirkung haben», sagt er.

Russland ist für die Permafrost-Forschung unverzichtbar, und die Fortsetzung von Studien an anderen Orten in der Arktis wäre nicht sehr sinnvoll, sagt Gabriela Schaepman-Strub. «Zwei Drittel des arktischen Permafrosts liegen in Russland», sagt sie.

«Dort ist die Permafrost-Schicht viel umfangreicher und tiefer. Ausserdem ist die sibirische Tundra anders als die anderen, und in Russland herrscht ein kontinentales Klima, das nicht mit jenem in Alaska oder Kanada zu vergleichen ist.»

Befürchtungen für die Forschung, aber nicht nur

Vorläufig beobachtet Schaepman-Strub die Situation. Sie wird anschliessend beurteilen, ob es möglich ist, mit Ihrer Forschung weiterzufahren. «Niemand weiss, was passieren wird: Wird die Situation in ein paar Monaten gelöst sein, oder wird es Jahre dauern?», fragt sie sich.

Die Absichtserklärungen, die das Schweizerische Polarinstitut mit ausländischen Institutionen abgeschlossen hat, die in der Arktis forschen, laufen demnächst aus. Und neue institutionelle Kooperationen sind im Moment nicht möglich, sagt sie. «Diese Situation birgt die Gefahr, dass ein Teil der bisher geleisteten Arbeit zunichte gemacht wird. Es wird Jahre dauern, die institutionellen Kanäle wieder zu öffnen.»

Die Bedenken von Schaepman-Strub gehen jedoch über die Forschung hinaus. «Viele der Menschen, mit denen ich arbeite, sind Freunde von mir. Was hier passiert, betrifft mich auch persönlich», sagt sie.

Tausende von Forscherinnen und Forschern in Russland haben einen Anti-Kriegs-Brief unterzeichnet und riskieren damit, sanktioniert oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. «Eine Kollegin erzählte mir, dass in ihrem Institut in Russland zehn Prozent der Mitarbeitenden abgewandert sind. Wir verlieren eine Menge Fachwissen und vor allem viele Menschen, die gerne international zusammengearbeitet hätten», sagt sie.

Dieser Text erschien zuerst bei swissinfo und wurde von Christian Raaflaub aus dem Italienischen übertragen.
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende