Keinen Zentimeter breit bedeckten die blonden Haare seine Ohren, da riefen ihm die Leute schon «yeah, yeah!» nach. Das war 1964 als Beleidigung gemeint. «Ich war einer der Ersten in Zürich, die sich die Haare wachsen liessen», erinnert sich Toni Vescoli. Doch je länger die Mähne wurde, desto aggressiver reagierten die gutbürgerlichen Schweizer. «Bei einem Konzertbesuch in Oberengstringen klopften zweitausend Leute mit dem Bierhumpen auf die Festbänke und riefen: ‹Haare ab!› Das war echt bedrohlich.» Der junge Künstler machte sich schleunigst aus dem Staub. Doch ein paar Monate darauf wurde der «Sauhund» in Winterthur zusammengeschlagen. Zum Coiffeur ging Vescoli aber nicht. «Das war kein Protest», sagt er heute. «Wenn du anfangs der 1960er-Jahre Beatmusik machen wolltest, gehörte die Frisur einfach dazu.»

Auch mit den Bluejeans gehörte Vescoli zu den Ersten. Schon Ende der Fünfziger trug er welche. «Als ich damit in der Schule auftauchte, hiess es, man komme nicht mit dem ‹Übergwändli› zum Unterricht.»

Vieles tat der junge Toni hinter dem Rücken des strengen Vaters – ein Ingenieur, der beim Bau der Staatsbahn von Persien engagiert war und später mit seiner Familie auch für ein paar Jahre nach Peru zog. Ihm zuliebe erlernte Toni dann doch einen «anständigen Beruf» als Hochbauzeichner; obschon sein Herz für die Musik schlug. «Ich verbrachte ganze Nachmittage in einschlägigen Musiklokalen», erinnert er sich. «Die beste Jukebox stand im ‹Schwarzen Ring›.» Toni wurde Stammgast, und als er eines Tages mitsamt Gitarre in dem Lokal auftauchte, forderte ihn der Wirt auf: «Spiel doch was!» Toni legte einen Titel von Elvis hin, und die Gäste waren begeistert. Fortan spielte er jeden Mittwochnachmittag. Für zehn Franken. «Das war 1959 viel Geld», sagt er.

«Ich war einer der Ersten, die sich in Zürich die Haare wachsen liessen.»Toni Vescoli

Drei Jahre später gründete er seine erste Band, um sich nach dem Lehrabschluss voll und ganz der Musik zu widmen. Les Sauterelles setzten zum grossen Sprung an: 1965 erste Schallplatte und erster Hit Hongkong. Der Song klingt heute zwar wie eine müde Imitation des Vorbilds der britischen The Shadows, doch die Zürcher Band startete damit durch. Les Sauterelles spielten im Hallenstadion als Vorprogramm von Cliff Richard & The Shadows und erhalten schnell den Übernamen Swiss Beatles. Es folgten internationale Tourneen; unter anderem im Vorprogramm der Rolling Stones.

Les Sauterelles - Hongkong

In dieser Zeit lernt der schöne Gitarrist Toni ein Mädchen namens Ruthli kennen. Er will sie heiraten, «weil damals das Konkubinat noch verboten war.» Das Management ist strikt dagegen. Ein Frauenschwarm müsse ledig sein, hiess es. Doch Toni weiss es besser, schleppt 1966 in einer geheimen Aktion Hardy Hepp – der später auch zu einer Ikone der Schweizer Musikszene werden soll – als Trauzeuge auf das Standesamt.

War Toni Vescoli ein Revoluzzer, der aus Prinzip nicht das tat, was man von ihm erwartete? «In einem gewissen Sinn schon», sagt er heute. «Aber ich empfand mich nie als Revoluzzer. Ich tat einfach, was ich für richtig hielt.»

Ein turbulentes Jahr war 1968 – beruflich wie privat: Die Sauterelles schafften es mit dem Beatsong Heavenly Club in die Schweizer Radio-Hitparade, wo sie sich sechs Wochen auf Platz 1 hielten; ebenso bei Radio Luxemburg und im Südwestfunk. «Und gleichzeitig waren wir mit der Band gross auf Tour», erinnert sich der treibende Kopf der Swiss Beatles.

Les Sauterelles - Heavenly Club

Wild war die Zeit auch auf den Strassen von Zürich. Welche Rolle spielte der aufmüpfige Jüngling bei den Jugendunruhen von 1968? Gar keine, sagt er. «Ich war zwar beim Aufbau des Jugendzentrums Drahtschmidli dabei, wir spielten an der ersten Vollversammlung der Zürcher Jugend, und ich habe in der Identitätskarte von damals einen Stempel der ‹Autonomen Republik Bunker›. Doch mir wurde bald alles zu gewalttätig.» Wenn ein Revoluzzer, dann ist Vescoli ein sanfter. «Steine werfen liegt mir nicht», sagt er. «Ich bin eher der Typ für einen Sitzstreik.» Und fürs Songschreiben. Nachdem sich im Jahr 1970 Les Sauterelles aufgelöst hatten, wandte Vescoli sich der Mundartmusik zu. «Ich hatte schon längere Zeit das Gefühl, dass gute Songs nicht nur in Englisch möglich sind. Doch meine Leute sagten, das gehe nicht.» In dieser Zeit hatte der Künstler neben der Musik eine Anstellung als Redaktor beim Schweizer Fernsehen. Eines Tages wurde er gefragt, ob er für eine Quizsendung einen Titel der Rolling Stones in Mundart performen könne. «Ich gab den Song Sister Morphine zum Besten und sah, dass es funktioniert», sagt Vescoli.

Es folgte die Anfrage der Zeitschrift Pop, ob er einen Eröffnungssong für die Musikmesse Hitfair schreiben könne. In Deutsch notabene. «Ich sagte: wenn schon, dann in Schweizerdeutsch.» Das war damals völlig neu. Mundart war für Volkslieder und für Chansons à la Mani Matter reserviert. Doch Vescoli war es ernst damit und er schrieb ein Lied über Wilhelm Tell. Aber als er es auf der Bühne ansagte, erntete er Gejohle. «Nicht einmal die Zuschauer glaubten an Mundart. Bis sie dann den Song gehört hatten.»

Mundart lag Anfang der 1970er-Jahre in der Luft – nicht nur in Zürich. Es begann eine Art musikalisches Wettrennen mit Bern: Vescoli schrieb D Susann. 1973 veröffentlicht die Berner Band Rumpelstilz um den Sänger Polo Hofer den Waarehuus-Blues. Ein Jahr später schafft es Vescoli mit Es Pfäffli in die Top Ten der Schweizer Charts.

Toni Vescoli - D Susann

1974 folgt sein Album Lueg für dich, das sich 20 000 mal verkauft. Rumpelstilz legen mit Vogelfuetter nach. Vescoli bringt 1975 die Hitsingle Scho root, die Berner kontern ein Jahr später mit Teddybär. «Wirklich Konkurrenten waren wir aber nie», sagt Vescoli. «Polo fuhr mehr die Rock-Tour, ich war im amerikanischen Folk zuhause.»

Vescoli mag der Erste gewesen sein, der Pop und Rock in Mundart schrieb. Was er jedoch nie erreichte, war der Status eines Polo Hofers, der noch nach seinem Tod 2017 als «Polo-National» bekannt ist. War der Zürcher für den grossen Ruhm schlicht zu brav? Von ihm hört man keine Skandalgeschichten, er breitet keine Drogenexzesse aus und ist seit über 50 Jahren mit derselben Frau verheiratet. Dann und wann wird ihm vorgeworfen, seine Texte seien harmlos. «Man mag dem brav sagen», gibt er zu. «Doch wer genau hinhört, merkt sehr wohl, was ich sagen will.»

Aber auch hier gilt: Vescoli mag nicht dreinschlagen. Er sei im Zeichen des Krebs geboren, erklärt er. «Am selben Tag wie Nelson Mandela. Mit meinem Waage-Aszendenten strebe ich nach Harmonie.» So blitzt seine Kritik an Gesellschaft und Individuen nur zwischen den Zeilen auf.

Neben der Musik – die er bis heute mal mit den wiedervereinigten Sauterelles, mal im Duo oder solo spielt, zog es ihn auch immer wieder in andere Sparten. Die Hüllen seiner Langspielplatten gestaltete er selbst. Er spielte die Titelrolle im Musical Tell und übernahm die Rolle des Erzählers auf 30 Märchen-Platten: In den 90er-Jahren rief ihn Sony BMG an und fragte, ob er den Sprecher für ein Pingu-Hörspiel machen möchte. «Ich sagte, man könne doch gleich eine Platte mit einem Pantomimen machen; denn Pingu spricht in den Kindertrickfilmen gar nicht.» Doch die Plattenfirma meinte es ernst; und die Musikkassetten mit Vescolis Stimme fehlen noch heute kaum in einem Kinderzimmer.

Einen seiner grössten Wünsche erfüllte er sich zum fünfzigsten Geburtstag selbst: ein Album mit Bob-Dylan-Songs, die er in Zürcher Mundart singt. Tatsächlich halten viele diese Scheibe für Vescolis beste. «Ich fühlte mich mit Dylan seelenverwandt», sagt er und erzählt begeistert, wie er 1998 am Out in the Green-Festival in Frauenfeld im Vorprogramm von Dylan spielte.

«Meine Lieder mögen brav erscheinen. Doch wer genau hinhört, merkt, was ich sagen will.»Toni Vescoli

Viele Stile hat Vescoli in seiner Karriere gepflegt: Beat, Folk, Rock. Nur an den Blues heran hat er sich bisher nicht so recht getraut. «Um Blues zu spielen, musst du durch den Dreck des Lebens gekrochen sein.» Gab es denn keinen Dreck in Tonis Leben? «Doch», bestätigt er. «Aber von Tiefschlägen erhole ich mich immer gut.» Dann berichtet er vom frühen Tod seiner Stieftochter und von der Tetraplegie seines Stiefsohns – zwei Kinder, die Ruthli in die Ehe gebracht hatte. Ebenso erzählt er von seinem Autounfall im Jahr 2000, bei dem er sich ein schweres Schleudertrauma zugezogen hat. «Ich fand mich danach auf der Bühne nicht mehr zurecht, wusste nicht, wo das Publikum ‹steht›. Ich dachte, die Karriere sei zu Ende.»

Sechs Jahre lang hielt er es nur mit Schmerzmitteln und Psychopharmaka aus. Doch Vescoli wollte wieder auf die Bühne, was der Arzt wegen der Versicherung nicht zulassen wollte. Doch der Künstler setzte sich durch: Er biss die Zähne zusammen, machte Krafttraining und trat auf. «Musik ist die beste Therapie für mich», sagt er. Was er damit meint, hört man in Songs wie Du bisch ggange, zum Tod von Carmen, Du bisch gfange, zur Lähmung von Kari und Blue Angel, in dem er seine eigenen Todessehnsüchte nach jahrelangem Schmerz beschreibt.

Toni Vescoli - Hitmedley 2017

«Vielleicht», so kommt Toni Vescoli während des Gesprächs zur Erkenntnis, «bin ich jetzt doch reif für das Blues-Album. Zuerst muss ich aber die Autobiografie fertig schreiben.» Diese ist mittlerweile erschienen. Doch Ruhe geben wird der 76-jährige sanfte Revoluzzer noch lange nicht.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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