Das musst du wissen

  • In der Schweiz ist auf der Oberstufe mehr als jedes fünfte Kind übergewichtig oder fettleibig.
  • Was viele nicht wissen: Fettleibigkeit hat oft genetische Ursachen oder entsteht schon im Kleinkindalter.
  • Eine Ärztin plädiert dafür, weniger Druck auf übergewichtige Jugendliche auszuüben – denn dies bewirke das Gegenteil.

Lange Zeit galten übermässiges Essen und zu wenig Bewegung als die einzigen Faktoren für Fettleibigkeit bei Teenagern. Während sich die öffentliche Meinung nur schwer ändern lässt und übergewichtige Jugendliche weiterhin stigmatisiert sind, fordern Ärzte und Ernährungswissenschaftler einen Paradigmenwechsel. Ein wohlwollenderer Ansatz verdient es, näher betrachtet zu werden.

Warum das wichtig ist. Laut einer Studie der Gesundheitsförderung Schweiz vom letzten September sind auf der Mittelstufe 17,4 Prozent der Buben und Mädchen und auf der Oberstufe gar 21,4 Prozent aller Jugendlichen übergewichtig oder fettleibig – das heisst, ihr Body Mass Index (BMI) liegt über 25. Diese Zahlen liegen zwar weit unter denen in den USA, wo fast fünfzig Prozent der Teenager übergewichtig oder fettleibig sind. Dennoch sind sie besorgniserregend.

Viele verschiedene Ursachen. «Wenn du dick bist, hast du keinen Willen.» Lea, 18 Jahre, 95 Kilo bei einer Grösse von 1,60 Meter, kann nicht mehr zählen, wie oft sie diesen Satz schon gehört hat. Die junge Frau erklärt, dass sie seit ihrer Vorpubertät mit ihrem Gewicht kämpft. Trotz der selbst auferlegten Einschränkungen bei der Ernährung und trotz ihrer Bemühung, regelmässig Sport zu treiben, gelingt es Lea nicht, ihr Gewicht zu stabilisieren.

Tatsache ist: Fettleibigkeit hat mehrere Ursachen. Schuld sind nicht allein die zu hohe Nahrungsaufnahme und ein geringer Energieverbrauch. Jardena Puder, Ärztin für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsspital Lausanne, hebt die genetische Veranlagung hervor:

«Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, bei denen die Fettleibigkeit genetische Ursachen hat, ist sehr gross. Die Kinder erben den Stoffwechsel und auch das Verhalten ihrer Eltern. Manchmal hängt es auch mit falscher Ernährung oder Unterernährung der werdenden Mutter während der Schwangerschaft sowie während der ersten tausend Lebenstage eines Babys zusammen.»

Hinzu kommen individuelle und familiäre Faktoren wie das Geschlecht und das Alter sowie sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren. Die Studie von Gesundheitsförderung Schweiz weist somit darauf hin:

«Fast jedes vierte ausländische Kind ist übergewichtig oder fettleibig, während dies bei den Schweizer Kindern nur auf jedes siebte zutrifft. Eine noch grössere Rolle spielt jedoch die soziale Herkunft: So ist jedes dritte Kind von Eltern mit Schulabschluss, der nicht über die Sekundarstuf II hinausgeht – als etwa eine Berufslehre oder eine gymnasiale Maturität – übergewichtig oder adipös. Die Anteile übergewichtiger Kinder von Eltern mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II oder auf Tertiärstufe – also Eltern mit einem Hochschulabschluss – sind signifikant geringer.»

Auch Lebensgewohnheiten wie Schlaf und körperliche Aktivität sowie psychologische Faktoren bei Jugendlichen und ihren Eltern spielen eine Rolle, ebenso die Beziehung der Familie zur Ernährung. Ebenfalls prägend sind eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, der Zugang zu wichtigen Ernährungs- und Gesundheitsinformationen sowie die Wirkung von Werbebotschaften.

Unmögliche Prävention? Jardena Puder ist sich darüber im Klaren, dass die Prävention von Fettleibigkeit von entscheidender Bedeutung ist:

«Die Hälfte der fettleibigen Kinder wird zu fettleibigen Teenagern und achtzig Prozent der fettleibigen Teenager werden zu fettleibigen Erwachsenen. Wenn ein fettleibiges siebenjähriges Kind sein Gewicht stabilisiert und bis zum Teenageralter wieder einen normalen BMI erreicht, senkt es sein überhöhtes Diabetesrisiko für das Erwachsenenalter. Bei einem adipösen 13-jährigen Teenager hingegen verdoppelt sich das Risiko, im Erwachsenenalter an Diabetes zu erkranken.»

Auch wenn einige Faktoren bereits im Kleinkindalter in der Verantwortung der Eltern liegen – Stillen, angemessene Portionen essen, um nur zwei zu nennen – scheint es illusorisch, Fettleibigkeit verhindern zu wollen. Denn die Faktoren sind vielfältig und oft unabhängig von individuellen Veranlagungen.

Die Kinderärztin Catherine Chamay Weber, tätig an der Beratungsstelle für Gesundheit, Bewegung und Ernährung bei Kindern und Jugendlichen am Universitätsspital Genf, erklärt:

«Die Prävention von Fettleibigkeit ist eine sehr komplizierte Aufgabe, da sie mit unserer Funktion in der westlichen Gesellschaft zusammenhängt: Wir bewegen uns immer weniger, haben immer mehr Versuchungen durch schlechte und süchtig machende Lebensmittel und die Menschen haben zunehmend psychosoziale Schwierigkeiten.»

Die Expertin betont, dass der sozioökonomische Aspekt eine wichtige Rolle spielt:

«In den ärmsten Familien ist der Kauf eines Schokoriegels oft die einzige Freude, die man seinem Kind bereiten kann. Ohne dies haben die Eltern das Gefühl, ihr Kind zu bestrafen. In solchen Fällen muss man ihnen erklären, dass sie Liebe auch anders vermitteln können.»

Langsame Änderungen. Trotzdem sollte man nicht aufgeben. Die übergewichtige Lea erzählte Heidi.news, dass sie, je mehr sie sich einschränkte, dazu neigte, nach Süssigkeiten zu greifen und sich schuldig zu fühlen. Verstärkt wurde dieser Teufelskreis durch die abfälligen Bemerkungen ihrer Eltern, Klassenkameraden und Ärzte. Catherine Chamay Weber weist auf den Schaden hin, der dadurch verursacht wird:

«Wenn man die Menschen, ihr Verhalten und ihre Gewohnheiten zu sehr verändern will, wenn man ihnen zu oft sagt, dass Übergewicht schlecht für die Gesundheit ist, wirft man sie auf ihre Hilflosigkeit zurück. Das senkt ihr Selbstwertgefühl und führt häufig zu einer erhöhten Nahrungsaufnahme, die mit negativen Gefühlen gegenüber dem Essen verbunden ist. Ein Teufelskreis.»

«Je mehr Druck die Eltern und das Umfeld auf das Essen und Abnehmen ausüben, desto mehr führt dies bei Jugendlichen zu negativen Emotionen wie Traurigkeit, Wut und Stress sowie zu Schuldgefühlen. Letztlich dient Essen dem Trost beziehungsweise kommt aus der Hilflosigkeit, es nicht besser machen zu können. Die Folge sind Essstörungen wie Bulimie oder Magersucht.»

Diesem Schema setzt die Ärztin eine wohlwollende, positive Unterstützung entgegen:

«Veränderungen sind möglich, aber auf eine sanfte Weise. Wir fordern die Eltern auf, keine abfälligen Bemerkungen über Gewicht und Ernährung mehr zu machen, weil sie fälschlicherweise glauben, dass dies zu einem Problembewusstsein bei den Jugendlichen führt. Die Eltern können ihre Kinder unterstützen: Zum Beispiel ermutigen, gemeinsam zu kochen, mehr zu Hause zu sein, um gemeinsame Aktivitäten zu haben.»

Eine weitere wichtige Veränderung wäre es, übergewichtigen Jugendlichen den Zugang zu körperlicher Aktivität in einem wohlwollenden Umfeld zu erleichtern. Ein Umfeld, das frei von Konkurrenz und Diskriminierung ist. Die Schule müsse sich also mit dem Thema befassen, erklärt Catherine Chamay Weber:

«Ich kann die ärztlichen Atteste nicht mehr zählen, die ich ausgestellt habe, um Jugendliche vom Sportunterricht zu befreien, so oft ist der Schulsport nicht für übergewichtige Jugendliche geeignet und so oft ist er der Ort, an dem man sich über sie lustig macht und ihr Selbstwertgefühl sinkt.»

Ein Paradigmenwechsel. Was wäre, wenn die Priorität nicht darin bestünde, fettleibige Jugendliche zum Abnehmen zu bewegen, sondern darin, sie vor den pathologischen Folgen ihrer Fettleibigkeit zu bewahren? Wie Catherine Chamay Weber berichtet, wird dieser Standpunkt in der medizinischen Fachwelt immer häufiger vertreten:

«Ein Paradigmenwechsel sollte nicht darin bestehen, übergewichtige Personen um jeden Preis schlank machen zu wollen. Sondern vielmehr darin, Jugendliche dazu zu bringen, sich mehr zu bewegen und besser zu essen, damit sie nicht an Diabetes, einem zu hohen Cholesterinspiegel oder Gelenkschmerzen erkranken. Als Ärztin sehe ich Jugendliche, die wegen ihrer Fettleibigkeit so unglücklich sind, dass es am wichtigsten erscheint, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen das Vertrauen in ihre Fähigkeiten zurückzugeben.»

Für diesen Perspektivenwechsel muss man Freizeitsportarten fördern, die für alle zugänglich sind und für eine gesunde und abwechslungsreichen Ernährung sorgen. Das bedeutet kein Verzicht, sondern lediglich die Übernahme von Handlungsweisen, die der Lebenswelt der Jugendlichen besser entsprechen.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Ramona Nock aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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