Das musst du wissen
- Wir haben kein Organ, um Zeit zu messen, deshalb behelfen wir uns mit verschiedenen Tricks.
- Wir messen Zeit unter anderem danach, wie viel in einem bestimmten Zeitraum normalerweise passiert.
- Erinnern werden wir uns an die Corona-Zeit dadurch aber eher wenig, wenn nichts Dramatisches passiert ist.
Brauchst du für Routinearbeiten gerade Ewigkeiten und hast Schwierigkeiten, den Wochentag zu bestimmen? Die Tage erscheinen entweder endlos lang oder es ist ständig keine Zeit mehr übrig? Damit bist du nicht allein. Eine Studie der John Moores Universität in Liverpool im Frühjahr 2020 zeigte, dass achtzig Prozent von 604 Befragten in der Corona-Pandemie eine Verzerrung der Zeit wahrnahmen. Unser sonst einigermassen zuverlässiges Zeitgefühl scheint gerade in den Schleudergang geraten zu sein.
Science-Check ✓
Studie: The passage of time during the UK Covid-19 lockdownKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Autorin weist darauf hin, dass neben dem Lockdown noch weitere Faktoren auf das Zeitgefühl Einfluss haben können, die nicht berücksichtig wurden, wie zum Beispiel Alkoholkonsum. Ausserdem wurde die Studie in Grossbritannien durchgeführt. Das Zeitgefühl könnte sich aber kulturell unterscheiden. Die Studie kann deshalb nur Hinweise geben und muss durch weitere Forschung bestätigt werden.Mehr Infos zu dieser Studie...Das könnte daran liegen, wie wir Zeit wahrnehmen. Da Menschen kein Organ für Zeit besitzen, helfen sie sich mit etlichen Tricks. Das Gehirn kann zwar durchaus sehr kleine Zeitabstände wahrnehmen, sonst könnten Musiker nie ein gerades Musikstück spielen. Geht es um Stunden, Tage oder Monate wird Zeit aber sehr relativ.
Der Körper ist kein zuverlässiges Messinstrument
Mit der «inneren Uhr», die unseren Wach-Schlaf-Rhythmus regelt, fängt die Ungenauigkeit schon an. Ein Zyklus dauert nicht 24, sondern 24,5 Stunden. In Experimenten führe das nach einiger Zeit zu grösseren Abweichungen zwischen Zeitgefühl und real vergangener Zeit, beschreibt die Psychologin Claudia Hammond, die sich mit der Zeitwahrnehmung ausführlich beschäftig hat. Der Geologe Michel Siffre zum Beispiel, der 1962 zwei Monate ohne Zeitmessung in einer dunklen Höhle verbrachte, irrte sich am Ende um mehr als zwanzig Tage. In ihrem Buch «Tick Tack, wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht», erklärt Hammond, wie unser Gehirn vorgeht, um sich in der Zeit zu orientieren.
Unter anderem schätzen wir Zeit danach ein, was in einem Zeitraum normalerweise passiert. Routinen wie der Arbeitsweg oder das Wochenende helfen dabei. Ein Verstoss gegen die Routine, wie er während des ersten Lockdowns passiert ist, kann unser Zeitgefühl ordentlich durcheinanderbringen. Für einige verliefen die Tage während der Pandemie wochenlang in den gleichen Bahnen, andere hatten mehr zu tun als zuvor. Für die von der Universität Liverpool Befragten verging die Zeit umso langsamer, je älter und gestresster sie waren und je weniger zufriedenstellend sie ihre sozialen Interaktionen fanden.
Zeit misst sich an dem, was in der Umgebung passiert
Kulturelle und soziale Faktoren helfen zusätzlich mit, die Zeit zu messen. Würde man einen Menschen an einem ihm bekannten Ort zu einer unbekannten Zeit absetzen, könnte er Monat, Wochentag und Tageszeit einigermassen zuverlässig erraten, erklärt Hammond in dem Buch. Wie es an diesem Ort aussieht, wie viele Menschen unterwegs sind und was sie tun, würde Hinweise geben. Statt Frühlingsgefühle erlebten wir während des Lockdowns aber menschenleeren Strassen und Social Distancing – die Umgebung half also nicht, die Zeit wahrzunehmen.
Unser Gehirn ist ausserdem sehr launisch, wenn es darum geht, aufzuzeichnen, was passiert ist. Vorrang hat vor allem Neues, Unerwartetes, Emotionales. Eine Rolle spielen auch Gemütszustand und Alter. Während der Corona-Pandemie fehlte vielen von uns all das auf der emotionalen Uhr. Wer ständig im Homeoffice sass und wenig andere Menschen traf, dessen Erlebnisvielfalt sank. Das Gehirn lechzte nach neuen Eindrücken. Wer unkonzentriert ist, nimmt mehr Dinge um sich herum wahr, die Zeit vergeht dabei subjektiv langsamer. Rückblickend ist zwar viel Zeit vergangen, man hat aber nur wenig erreicht.
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Rückblickend wird die Pandemie sehr kurz gewesen sein
Das hat aber auch sein Gutes. So vergehen Ferien – reich an neuen und aufregenden Erlebnissen – zum Beispiel meist wie im Flug. In der Erinnerung erscheint die Zeit aber lang. Hammond nennt dieses Phänomen das «Urlaubs-Paradox». Jenen, die im vergangenen Jahr nichts Bemerkenswertes erlebt haben, wird die Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen also vermutlich rückblickend sehr kurz vorkommen.