Das musst du wissen

  • Immer wieder berichten Patientinnen und Patienten von Nahtoderfahrungen.
  • Sie erzählen vom Blick auf den eigenen Körper von aussen, von Tunnel- und Lichterfahrungen.
  • Wissenschaftliche Erklärungen für dieses Phänomen gibt es nicht – Forschungsgruppen wollen diese aber finden.
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Mit 19 Jahren erkrankt Johanna Mollet an einer Lungenentzündung und wird selbst zur Patientin in dem Spital, in dem sie als Pflegerin arbeitet. Kein Medikament schlägt an. Über sechs lange Wochen verschlechtert sich der Zustand der jungen Frau stetig. Nach zwei Wochen mit sehr hohem Fieber kann sie nicht einmal mehr essen und ernährt sich nur noch von Orangensaft. In diesem kritischen Zustand macht sie eine Erfahrung, die ihr Leben verändern wird: «Eines Nachmittags – ich war schon wieder weggetreten – bin ich plötzlich aus meinem Körper heraus und sah mich im Spitalbett liegen», sagt Mollet. «Ich bin ganz, ganz atheistisch aufgewachsen und war daher sehr erstaunt.»

Sie erzählt, wie sie durch das geschlossene Fenster hindurch zu einem Apfelbaum flog. «Ich sah aus wie ein kleiner hellblauer Hauch. Kein Körper, nur ein Gesicht und die Seele.» In dieser Gestalt, so erzählt sie, trifft Mollet auf etwa sieben weitere Personen, die so aussehen und schweben wie sie. Der einzige, an den sie sich genau erinnert, war ein Amerikaner namens Phil. «Ich dachte mir, wenn ich jetzt schon sterben muss, dann war ich nie in Amerika. Da habe ich den anderen vorgeschlagen, nach Amerika zu fliegen. Und das haben wir dann gemacht.» Eine Sprachbarriere habe es nicht gegeben. Man habe nur über Gedanken kommuniziert. Dann schwebt Mollet hoch über dem Hafen von New York City. Dort stellt sie plötzlich fest, dass Phil nicht mehr in der Gruppe ist. Auf ihre Frage, wo er sei, zeigt jemand aus der Gruppe mit dem Finger nach unten ins Hafenbecken. «Dort lag einer mit dem Gesicht nach unten im Wasser und war ertrunken», sagt Mollet. «Phil haben wir danach nicht mehr gesehen.»

Noch über diesen Anblick grübelnd, verlässt sie die Gruppe und fliegt immer weiter nach oben auf ein helles Licht zu. «Es war ein so goldiges Licht, dass ich das meinen Lebtag nicht vergessen werde.» Sie habe in diesem Moment genau gewusst, dass sie über eine Grenze gehen kann und dann in die Ewigkeit gelange, sagt sie und betont, dass sie das Wort «Himmel» bewusst nicht verwendet. «Als ich aber ins Licht hinein wollte, stand da eine grosse, mächtige Figur in schmutzigem Weiss, hielt die Hand nach oben und rief mir zu ‚Hau ab, es ist noch nicht deine Zeit, du musst wieder zurück!‘. Und dann bin ich wieder zurück.»

Wieder in ihrem Körper und Krankenbett angekommen, kommt Mollet zu sich. Ihre nächste Erinnerung ist ihr Arzt, der ihr in einem letzten verzweifelten Versuch ein weiteres Medikament verabreicht mit den Worten: «Entweder bist du morgen tot oder es geht dir besser.» Diesmal schlägt das Mittel an und ihr Fieber sinkt rasch von 42 auf 38 Grad, sie überlebt.

Wenn Mollet heute davon erzählt, gerät sie nicht ein einziges Mal ins Stocken, muss nicht überlegen. Detailliert und mit ruhiger Stimme beschreibt sie ihr Erlebnis, als wäre es vor wenigen Minuten passiert. Doch der Tag, an dem sie fast gestorben wäre, liegt nun schon sehr weit zurück. Mollet ist heute 85 Jahre alt und lebt in Biel, ihr Erlebnis hatte sie im Jahr 1955.

Berichte über Nahtoderlebnisse ähneln sich

Elemente wie aus Mollets Erfahrung finden sich häufig in Schilderungen von Nahtoderlebnissen (NTE). Erstmals fasste der amerikanische Philosoph und Psychiater Raymond Moody 1975 in seinem Buch «Life After Life» 150 Erfahrungsberichte zusammen und prägte den Begriff Nahtoderlebnis. Der Blick auf den eigenen Körper von aussen, der Rückblick aufs eigene Leben, Tunnel- und Lichterfahrungen sowie freudige Momente mit Angehörigen finden sich häufig in den Berichten. Von Kontakten mit fremden Menschen, die sich wie Mollet in einem ähnlichen Schwebezustand befinden, gebe es dagegen nur sehr wenige Berichte, sagt Reto Eberhard Rast, Allgemeinmediziner und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung von Nahtoderfahrungen.

In einigen Fällen berichten Betroffene erstaunlich detailgetreu, was um sie herum passiert ist, während die Mediziner versuchten, ihr Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese Fälle am interessantesten. Sie dürften selbst diejenigen ins Grübeln bringen, die solchen Schilderungen sonst sehr skeptisch gegenüberstehen. Dass Betroffene stets bereitwillig von ihren NTE erzählen oder gar damit prahlen, sei dagegen ein Trugschluss, erklärt Eberhard Rast. Im Gegenteil: Viele seiner Gesprächspartner hielten ihre emotionalen Erlebnisse lange geheim und hätten grosse Hemmungen darüber zu sprechen.

Der Tod wird zum umkehrbaren Prozess

Nahtoderlebnisse sind ein Phänomen, das eng mit der medizinischen Möglichkeit der Reanimation verbunden ist. Seit der österreichisch-amerikanische Arzt Peter Safar 1957 den Grundstein für die Herz-Lungen-Wiederbelebung legte, ist der Übergang von Leben und Tod plötzlich kein Lichtschalter mehr, bei dem es nur An oder Aus gibt. Vielmehr ist das Sterben seither ein Prozess. Die Erkenntnis, dass man jemanden mittels Herzdruckmassage und Beatmung nach einem Herzstillstand ins Leben zurückholen kann, brachte auf einen Schlag die bis dahin absolute Grenze des menschlichen Lebens zu Fall.

Herzdruckmassage an einer Übungspuppepixabay/manseok Kim

Mediziner reanimieren heutzutage viel länger als früher.

Trotzdem machten Naturwissenschaftler lange einen grossen Bogen um die Thematik – wohl auch aus Sorge um ihren Ruf. Doch das ändert sich nun. Denn seit einigen Jahren versuchen Forschende, dem Mysterium um Nahtoderlebnisse durch gezielte Experimente auf die Schliche zu kommen.

Im Gegensatz zu anderen bislang unerklärlichen Phänomenen bieten NTE einen entscheidenden Vorteil: Sie geschehen meist in Extremsituationen bei akuter Lebensgefahr, also oft auf Intensivstationen, wo Medizinern technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, um ihre Patienten zu beobachten und zu vermessen. Dass sich dazu immer mehr Gelegenheiten bieten, verdanken wir der modernen Reanimationsmedizin.

Kühlen schützt das Gehirn

Früher lag die Grenze noch bei etwa zehn Minuten. Hielt der Herzstillstand länger an, stellten Mediziner ihre Bemühungen zur Wiederbelebung ein. Man war sich einig, dass das Gehirn einen längeren Sauerstoffmangel nicht ohne schwerste Schäden überleben könne. Seither hat sich die Zeitspanne, ab der ein Mensch als nicht mehr rückholbar gilt, enorm vergrössert. Bis zu einer halben Stunde – in Ausnahmefällen auch länger – reanimieren Mediziner heute.

Die Techniken sind im Wesentlichen seit den Anfängen gleich geblieben, aber um stetig bessere Maschinen und Medikamente ergänzt worden. Relativ neu im Instrumentenkasten sind gezielte Kühlungstechniken, die sich um die Jahrtausendwende in Studien als hilfreich erwiesen haben und seither in den internationalen Leitlinien zur Reanimation bei Herzstillstand empfohlen werden. Bei dieser milden therapeutischen Hypothermie wird der Körper schnellstmöglich auf 32 bis 34 Grad heruntergekühlt, um vor allem das Gewebe im Gehirn zu schützen. Das Verfahren kommt auch in den kritischen 24 Stunden nach einer Reanimation zum Einsatz, in denen viele zunächst wiederbelebte Menschen doch versterben. Warum dadurch die Zellen im Gehirn so effektiv geschützt werden, weiss noch niemand so genau, denn was in diesem Schwebezustand zwischen Leben und Tod im Körper passiert, darüber kann die Wissenschaft bislang in weiten Teilen nur spekulieren.

«Das Hirn wird vor dem Tod sehr aktiv in einigen Regionen. Das ist noch keine Erklärung für NTE, sondern zunächst einmal nur ein Phänomen, das wir beobachten», sagt Eberhard Rast von der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung von Nahtoderfahrungen. «Am ehesten kommen wir also weiter, wenn wir das Hirn in diesen dramatischen Momenten des Sterbens untersuchen.» Doch genau dann habe man in der Praxis keine Zeit, denjenigen in ein MRI-Gerät zu schieben und zu schauen was passiert. «Da sind wir also aus ethischen und aus praktischen Gründen sehr limitiert», so der Arzt.

Glaubwürdigkeit der Berichte prüfen

Das Lager der Materialisten, die unser Bewusstsein als reines Produkt chemischer Prozesse im Hirn sehen und anders lautende Ansätze mitunter als spirituelle Spinnereien abtun, ist unter Wissenschaftlern noch ziemlich gross. Wo aber soll man ansetzen, wenn man etwas so Subjektives wie ein Nahtoderlebnis objektiv erfassen will? Befragungen von Betroffenen sind heute das wichtigste Werkzeug. Wissenschaftler versuchen die Schilderungen mit objektiven Mitteln auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen.

Bruce Greyson, einer der bekanntesten Forschenden rund um das Thema NTE, und sein Team vom Department für Psychiatrie und Neuroverhalten von der Universität Virginia sind in einer Studie der Frage nach gegangen, wie real die Erinnerungen der Betroffenen an ihre NTE sind. Denn: Die Befragten widersprechen in der Regel entschieden Behauptungen, ihre Erfahrung sei nur ein Traum, eine falsche Erinnerung oder gar völlig herbeifantasiert gewesen.

Ein Krankenhauszimmerpixabay/Cor Gaasbeek

Manche Menschen, die über NTE berichten, erinnern sich an Details aus der Umgebung.

Um das zu überprüfen, unterzogen die Forschenden 122 Überlebende mit NTE dem Memory Characteristics Questionnaire, einem in der Psychologie gebräuchlichen Test, mit dem Eigenschaften von falschen Erinnerungen überprüft werden. Die Probanden sollten drei Arten von Erinnerungen schildern: ihre eigene NTE, ihre Erinnerung an ein bedeutendes Erlebnis kurz vor ihrer NTE sowie eine zur selben Zeit spielende erfundene Erinnerung. Der Test basiert auf früheren Beobachtungen, wonach Menschen ihre Erinnerungen an reale Erlebnisse anders beschreiben als an erfundene. Demnach sind die Schilderungen detaillierter, kontextbezogener und enthalten weniger bizarre Elemente.

Die Auswertung brachte ein eindeutiges Ergebnis: Der ermittelte Punktwert lag bei den NTE höher als bei den in zeitlicher Nähe gemachten echten Erfahrungen, die ihrerseits vor den erfundenen Erlebnissen lagen. Die Forschenden folgern daraus: Den Betroffenen kam ihr NTE tatsächlich realer als die Wirklichkeit vor. «Die Ergebnisse zeigen, dass Nahtoderfahrungen nicht mit erfundenen beziehungsweise falschen Erinnerungen verglichen werden können», so Greyson und sein Team.

Töne und Bilder bei der Wiederbelebung

Einen handfesteren Beweis für die Existenz von ausserkörperlichen Erlebnissen soll die Forschung des britischen Kardiologen Sam Parnia bringen. Für eine Studie liess er in rund tausend Zimmern von Kardiologie- und Intensivstationen Fotos auf Regale legen, die zur Decke zeigten und vom Boden aus nicht zu sehen waren. Sollte ein Patient tatsächlich während einer NTE aus dem Körper fahren und im Raum schweben, könne dieser hinterher von dem Bild berichten, so die Annahme. Die Studie lief über vier Jahre.

Science-Check ✓

Studie: AWARE-AWAreness during REsuscitation-a prospective studyKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Aussagekraft der Studie ist dadurch klar eingeschränkt, dass nur ein Patient detailliert von einer Nahtoderfahrung berichten konnte. In dieser schilderte er allerdings Vorkommnisse, die während seiner Wiederbelebung passiert waren, genau. Es braucht jedoch weitere Forschung, um dieses Phänomen weiter zu untersuchen.Mehr Infos zu dieser Studie...

Von 2060 Patienten überlebten 330 einen Herzstillstand. Von den 101 Personen, die anschliessend ausführlicher berichten konnten, hatten neun Erinnerungen an ihren Tod, aber nur zwei sprachen von ausserkörperlichen Erfahrungen. Einer von ihnen konnte wegen einer schweren Erkrankung nicht weiter befragt werden. Übrig blieb schliesslich ein Mann Ende 50, der detailliert beschreiben konnte, wie die Mediziner um sein Leben kämpften, während sein Herz schon einige Minuten stillstand und er nach eigenen Angaben unter der Decke schwebte. Das Personal hat keine Erklärung hierfür, da der Mann zu diesem Zeitpunkt nach der medizinischen Definition tot war und sich bereits wenige Sekunden nach dem Herzstillstand keine Hirnaktivität mehr mit dem EEG messen lässt. Grosses Pech für alle Beteiligten: Ausgerechnet in diesem Behandlungszimmer war kein Bild auf dem Regal ausgelegt.

Die Ergebnisse verdeutlichen eine weitere Schwierigkeit des Forschungsgebiets: Die Fallzahlen sind zu gering, um ausreichend Daten zu bekommen.

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Parnia und sein Team forschten also weiter. In einer Neuauflage ihrer Studie arbeiten die Mediziner während der Wiederbelebung von Herzinfarkt-Patienten mit Bildern und Tonaufnahmen, die sie auf einem Tablet abspielen. Die Studie läuft noch.

Was hinter Nahtoderfahrungen steckt, ist also noch nicht geklärt. Sollte es sich bei NTE tatsächlich nur um unzureichend verstandene biochemische Prozesse handeln, könnte man damit wilde Theorien über ein Leben nach dem Tod womöglich widerlegen. Gelänge hingegen der Beweis eines vom Körper entkoppelten Bewusstseins, würde dies wohl quer durch alle Wissenschaften und Glaubensrichtungen unser Weltbild auf den Kopf stellen.

Nicht zuletzt könnte man sich auch den versöhnlichen Aspekt solcher Erlebnisse zunutze machen. 95 Prozent der Betroffenen gaben bei Befragungen an, dass das NTE ihr Leben nachhaltig positiv beeinflusst hat. Auch Johanna Mollets Erfahrung war lebensverändernd, wie sie sagt. Seither habe sie keine Angst vor dem Tod. Das Erlebnis habe ihr geholfen, schwerste Verluste in ihrem Leben zu verarbeiten. Auch im hohen Alter hilft sie Trauergruppen mit Schicksalsschlägen umzugehen. «Es ist mein fester Wunsch den Leuten beizubringen, dass es mehr gibt als nur das Hiesige.»

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