Mit drei Millionen Besuchen pro Monat ist die Website corona-data ein Paradebeispiel für die Nutzbarmachung öffentlich zugänglicher Daten. Die klaren, aussagekräftigen Grafiken zur Covid-19-Epidemie wurden vom Chemiedoktoranden Daniel Probst in seiner Freizeit erstellt und zeigen, was Open Science leisten könnte. Die Bewegung will den freien Datenverkehr fördern und so den Wissensstand vorantreiben, Interdisziplinarität unterstützen, guten Forschungspraktiken zum Durchbruch verhelfen und die Wissenschaft für die Gesellschaft öffnen. «Mit öffentlichen Geldern finanzierte Forschungsresultate sind ein öffentliches Gut», betont denn auch der Schweizerische Nationalfonds (SNF).
«Solche Daten bieten professionellen Forschenden ebenso wie Laienforschenden bessere Möglichkeiten, der Wissenschaft Impulse zu geben»Royal Society
Frei zugängliche Forschungsdaten – Open Research Data, wie es im Fachterminus heisst – laden Personen ausserhalb der akademischen Welt ein, sich von Daten aus Forschungsarbeiten inspirieren zu lassen. «Solche Daten bieten professionellen Forschenden ebenso wie Laienforschenden bessere Möglichkeiten, der Wissenschaft Impulse zu geben», erklärt die britische Royal Society. Auch in der Schweiz beginnt sich Open Science durchzusetzen: Seit 2017 muss bei jedem Projekt, das dem SNF eingereicht wird, ein Managementplan mit Modalitäten zur Veröffentlichung der Daten vorgelegt werden.
Doch interessiert sich die Allgemeinheit überhaupt für diese frei zugänglichen Informationen? Sehr selten – wie Recherche in der Schweiz für diesen Text ergeben hat.
Eine Karte mit Lawinenopfern
Nehmen wir etwa die Plattform Envidat, die 2016 von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) lanciert wurde. Sie verweist aktuell auf über 300 Datensätze, welche die Schweizer Wälder kartografieren, Totholz erfassen, Opfer von Naturkatastrophen dokumentieren oder die Auswirkungen der Klimaänderung in den Bergen prognostizieren. Obwohl diese Themen relevant sind, finden sie ausserhalb der Fachwelt kaum Beachtung. Dies zeigen zumindest die Beispiele von Gian-Kasper Plattner, Verantwortlicher der Plattform.
Mit einem Datensatz aus Envidat konnte Informatiker Oleg Lavrovsky, der sich in der Open-Data-Szene engagiert, eine Karte mit den Lawinenopfern der vergangenen 25 Jahre erstellen. «Ich habe keine direkte Beziehung zu den Umweltwissenschaften», erklärt er. «Dieses Projekt habe ich für mich selber an einem Wochenende gemacht.» Die Visualisierung wurde im Spezialforum Opendata.ch veröffentlicht, scheint jedoch weder bei den Medien noch in den Skiorten oder bei Bergführern auf grosses Interesse zu stossen.
«Meines Erachtens besteht das Ziel von Envidat vor allem darin, dass Fachleute profitieren, die in Forschung und Verwaltung arbeiten.»Gian-Kasper Plattner, Geograf
Zwei weitere Beispiele zeugen ebenfalls vom bescheidenen Echo, das die reichen Daten von Envidat auslösen: Eine nationale Karte zum Potenzial der Biomasse-Ressourcen – bereits verfügbar auf dem Geoportal des Bundes – wurde auf dem Geoportal des Kantons Aargau übernommen, und ein Bauminventar ist in einem Verzeichnis des Wildnisparks Zürich als Referenz angegeben.
Natürlich ist es möglich, dass weitere Daten des WSL an anderen Orten übernommen wurden. «Es gehört nicht zu unseren Prioritäten, genau zu verfolgen, wie unsere Plattform genutzt wird», betont der Geograf Gian-Kasper Plattner. «Wenn wir in einem Projekt nicht korrekt als Quelle zitiert werden, ist das schwierig auszumachen.» Dass diese Daten bei der Allgemeinheit wenig Anklang finden, beunruhigt ihn nicht: «Meines Erachtens besteht das Ziel von Envidat vor allem darin, dass Fachleute profitieren, die in Forschung und Verwaltung arbeiten, auch wenn sie aus anderen Disziplinen stammen.»
Enzyklopädie der Proteine
Ein anderes Beispiel, dieses Mal aus dem Bereich der Biowissenschaften: Über 22 000 Patente verweisen auf Uniprot, eine Enzyklopädie mit 180 Millionen Proteinen, die vom Schweizerischen Institut für Bioinformatik (SIB) und zwei grossen Partnerorganisationen in England und den USA verwaltet wird. «Das Ziel von Uniprot besteht nicht nur darin, die Daten zu hosten», erklärt Alan Bridge vom SIB. «Unser Team führt aufwändige Arbeiten durch: Mithilfe von Algorithmen kuratieren und annotieren wir die Daten so, dass die Informationen besser verfügbar und nutzbar sind.»
Von der Vision einer Open Science, bei der die von den Laboratorien veröffentlichten Daten direkt von anderen wiederverwendet werden, ist die Enzyklopädie noch weit entfernt. Und das zur Verfügung gestellte Wissen ist nicht in erster Linie mehrheitstauglich, die Nutzerinnen und Nutzer von Uniprot sind Fachleute aus der Biotechnologie, die bei öffentlichen Forschungseinrichtungen, Unternehmen oder Start-ups arbeiten.
«Die Medien arbeiten sehr selten mit wissenschaftlichen Rohdaten.»Mathias Born, Datenjournalist
Sorgen am anderen Ende der Kette die Medien dafür, dass die Bevölkerung mit den Daten aus der Wissenschaft etwas anfangen kann? Nicht wirklich, abgesehen von den zahlreichen Grafiken, die zum Coronavirus verbreitet werden. 2019 thematisierte ein Artikel auf srf.ch in Form eines Fragebogens die Auswirkungen des Klimawandels auf Orte in der Schweiz. Das Redaktionsteam stützte sich dafür auf die Szenarien, die das National Centre for Climate Services publiziert hatte, ein vom Bund koordiniertes Netzwerk mit Beteiligung der ETH Zürich, der WSL und der Universität Bern. «Wir haben die Daten konsolidiert, legten den Fokus aber auf die Präsentation», erklärt Julian Schmidli, Datenjournalist bei SRF. «Unsere Aufgabe besteht darin, ausgehend von diesen Daten eine Geschichte zu erzählen und so ein gut verdauliches Leseerlebnis zu ermöglichen.»
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«Die Medien arbeiten sehr selten mit wissenschaftlichen Rohdaten», bestätigt Mathias Born, Datenjournalist bei Tamedia: «Im Allgemeinen kommen Forschende erst zu uns, wenn sie ihre Ergebnisse bereits analysiert und visualisiert haben. Wir müssen sie dann nicht nochmals neu aufbereiten. Hingegen werten wir manchmal Daten aus, die vom Bund veröffentlicht werden, zum Beispiel von Meteoschweiz.»
#MediaToo-Serie auf SRF
Für Julian Schmidli liegt das Problem nicht in der Komplexität der Forschungsdaten, denn sein Team verfügt über die zur Analyse erforderlichen Kenntnisse, sondern eher in der verfügbaren Zeit und der Inspiration: «Es gibt zweifellos zahlreiche interessante Quellen, ich denke aber, dass wir noch nicht genügend aktiv danach suchen.» Die beiden Journalisten erzählen, dass sie manchmal mit Forschenden bei Fragen zusammenarbeiten, die von der Redaktion aufgeworfen werden – zum Beispiel bei der #MediaToo-Serie zur Dokumentation von sexuellen Belästigungen an Journalistinnen. Es handelt sich wieder um eine ergiebige Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Interessierten ausserhalb der akademischen Welt, die aber auch unabhängig von den Open Research Data möglich wäre.
«Man kann Open Research Data als eine populistische Utopie sehen, die in erster Linie dazu dient, Budgets durchzubringen.»Luc Henry, Berater für Open Science
Die Beispiele zeigen, dass die Daten aus Open Science derzeit in der breiten Bevölkerung kaum Abnehmende finden. Die Vision einer Wissenschaft für alle scheint nach wie vor ein Wunschtraum. «Institutionen wie die Europäische Union betonen gerne die Idee einer offenen, volksnahen und partizipativen Wissenschaft », meint Luc Henry, ehemaliger Berater für Open Science an der EPFL. «Doch in diesem Kontext kann man Open Research Data als eine populistische Utopie sehen, die in erster Linie dazu dient, Budgets durchzubringen. Forschungsdaten sind noch immer hochspezialisiert, und die Allgemeinheit findet normalerweise keinen Zugang zu diesem Wissen.»
Die Gefahr bestehe darin, dass sich das Argument der Demokratisierung für das eigentliche Hauptinteresse von Open Data letztlich als Bumerang erweise: «Es besteht darin, die wissenschaftliche Praxis zu verbessern, indem Transparenz, Reproduzierbarkeit und Ergebniskontrolle durch die Forschungsgemeinde gefördert wird. Zahlreiche Forschende zögern jedoch, ihre Daten zu teilen, weil sie befürchten, kritisiert oder einer Idee beraubt zu werden. Diesen Widerstand wiederum würden sie dann genau mit dem – nicht unbedingt falschen – Argument rechtfertigen, dass die Bevölkerung mit diesen Daten ohnehin nichts anzufangen wisse.»