Das musst du wissen

  • Mehr als die Hälfte der 2,5 Millionen Schweizer Mastschweine lebt auf einer Fläche kleiner als ein Quadratmeter.
  • Ein neues System erlaubt eine artgerechte Haltung, in der die Schweine ihre Bedürfnisse ausleben können.
  • Zur Zeit werden einige hundert Tiere hierzulande als Wiesenschweine gehalten.
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Eigentlich sind es ganz normale Mastschweine. Nur: Sie haben Schwein gehabt. Die Tiere auf dem Hof von Lukas Herzog in Beromünster können ihre natürlichen Verhaltensweisen ausleben, können wühlen, suhlen, rennen – so richtig die Sau rauslassen eben.

Gleich geht es wieder los: Das Tor zum überdachten Spielplatz öffnet sich. Alle vierzig Schweine drängen nach draussen. Sie springen durcheinander, werfen sich auf den Boden, wälzen sich hin und her. Nach kurzer Zeit haben alle einen braunen Rüssel. Nur für das Schwimmbecken ist es am Morgen unseres Besuchs zu kalt. Und auch der schon arg in Mitleidenschaft gezogene Ball, der neben diesem Becken im Streu liegt, bleibt heute unberührt.

EIngezäunte grüne Wiese mit abgesperrten Bäumen und Stallgebäuden.Lukas Herzog

Der Wiesenschwein-Hof in Beromünster.

Vom Spielplatz gelangen die Tiere weiter auf die satte grüne Wiese. Von ihr haben sie ihren Namen: Wiesenschweine. Der Erfinder dieser neuen Art, die Tiere zu halten, heisst Oliver Hess. Wenn er erzählt gerät er ins Feuer: «2009 habe ich mich gefragt, wie wir den Nutztieren ein anständiges Leben ermöglichen können, das nicht auf Kosten der Umwelt, der Bauern und der Ressourcen geht.» Ursprünglich hat Hess sich das neue Haltungssystem für seinen eigenen Zucht- und Mastbetrieb ausgedacht. Weil er diesen aber nicht umbauen durfte, gründete er eine Aktiengesellschaft und verwirklicht seither seine Vision auf anderen Höfen. Drei Wiesenschweinbetriebe gibt es mittlerweile, alle im Kanton Luzern: einer in Beromünster und zwei im Entlebuch.

Keine Langeweile mehr

Die Idee besteht darin, den Schweinen während der Zeit, in der sie aktiv sind, Auslauf und Beschäftigung zu geben. Dabei teilen sich mehrere Schweinegruppen den Spielplatz und auch die Wiese. Jede Gruppe hat eineinhalb Stunden am Morgen und eineinhalb am Nachmittag Zeit, sich dort auszutoben. Dafür haben sie rund neunzig Quadratmeter zur Verfügung – aber eben nicht permanent. «Das brauchen die Schweine auch gar nicht», sagt Hess. Denn die Tiere verbringen 16 bis 18 Stunden am Tag liegend, ruhend oder schlafend.

Grüne Wiese mit Schweinen.Lukas Herzog

Die Wiese der Wiesenschweine in Beromünster, im Hintergrund der überdachte Spielplatz.

«Im Vergleich zur konventionellen Haltung ist das ein Quantensprung», sagt Mirjam Holinger, Expertin für Schweinehaltung vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau in Frick. Konventionelle Haltung heisst: 0,9 Quadratmeter pro Tier, kein Auslauf, kein Einstreu. Das sind die Mindestanforderungen des Tierschutzgesetzes. Damit müssen 65 Prozent der rund 2,5 Millionen Schlachtschweine in der Schweiz auskommen. Den anderen geht es etwas besser: Sie leben auf bis zu 1,65 Quadratmeter Fläche pro Tier. Das kann man sich in etwa so vorstellen wie eine Wohnung mit Balkon. Einige wenige Betriebe halten die Tiere permanent im Freiland. Das sind aber meist nur kleine Gruppen von zehn bis zwanzig Schweinen. Genau hier zeige sich der grosse Unterschied und die Stärke der Wiesenschwein-Haltung, sagt Holinger: «Dieses System ist tierfreundlich und gleichzeitig für grosse Betriebe umsetzbar. Das heisst: es ist skalierbar.»

Auf dem Hof von Lukas Herzog leben insgesamt 280 Tiere, vierzig pro Schweinegruppe. Nun planen Oliver Hess und sein Team eine Anlage für 1500 – die maximale Anzahl Tiere, die ein Bauer in der Schweiz laut Tierschutzgesetz halten darf – und damit hundert Tiere pro Gruppe.

Ohne Automation undenkbar

Möglich macht dies modernste Technologie: Jedes Wiesenschwein trägt eine Ohrmarke mit einem Funkerkennungs-Chip, an verschiedenen Orten im Stall und im Freien hängen Kameras mit Bild- und Bewegungsalgorithmen. Sie detektieren jedes einzelne Tier und sorgen dafür, dass sich die richtigen Tore zur richtigen Zeit öffnen und schliessen. Dabei darf kein Tier vergessen gehen und mit einer anderen Gruppe in Kontakt kommen – bei den stabilen Rotten, die Schweine bilden, könnte das tödlich enden. «Diese Arbeit von Hand zu machen wäre unmöglich», sagt Schweinebauer Lukas Herzog. Zudem sei der Mensch auch nicht fähig, so viele Tiere ständig im Blick zu haben. Darum ist auf seinem Hof alles automatisiert. Schätzungsweise vier Kilometer Kabel wurde verlegt, um Sensoren, Server, Kameras und Lautsprecher mit dem Zentralrechner zu verbinden.

«International sind wir die Ersten, die etwas entwickeln, das in dieser Form dem Tierwohl dient»Oliver Hess, Gründer Wiesenschwein AG

Jetzt ertönen drei laute Töne. Sie signalisieren den Schweinen, dass die Spielzeit vorbei ist. Schon beim ersten Ton sprinten die Tiere los. Am Eingang zum Stall kommt es zum Stau, jede Sau will die erste sein am Futtertrog. Nur einige wenige trödeln. Aber erst wenn alle zurück sind, schliessen die blauen Tore. Der Spielplatz ist nun frei für die nächste Gruppe.

Gutes Gehör, schlaues Köpfchen

Diese Szene verdeutlicht, wie sich Oliver Hess die Intelligenz der Schweine zunutze macht: Zum Training hat er ihnen die Töne immer kurz vor dem Fressen abgespielt und sie so über das Futter konditioniert. Das geht sehr schnell, denn Schweine sind sehr schlau: Nach nur vier Tagen haben sie den Dreh raus – jede Schweinegruppe für ihre eigene Tonfolge. Den Vorlieben der Bauern ist dabei keine Grenzen gesetzt. «Einer hat keine Sirenentöne, sondern Ländlermusik gewählt», erzählt Hess lachend.

Die Schweine scheinen keine musikalische Präferenz zu haben, solange es genug zu fressen gibt. Das System funktioniere sehr gut, sagt Hess. Bis aber der Bauer das System und die Schweine sich selbst überlassen und in die Ferien fahren kann, dürfte es noch ein wenig dauern. Denn ganz fehlerfrei läuft die Anlage noch nicht. Wenn beispielsweise ein Vogel auf der Wiese landet oder sich der Schatten eines Baumes im Wind bewegt, lässt sich das System manchmal noch täuschen und meint, es sei noch ein Schwein unterwegs. Dann erscheint auf dem Handy und Tablet von Lukas Herzog eine Fehlermeldung. Und bis er diese quittiert, steht das System still. In dem Sinne versteht der Schweinehalter seinen Hof auch als eine Art Freiluftlabor, auf dem Hess und sein Team verschiedene Methoden testen und herausfinden wollen, was, wo, wie am besten funktioniert. Was aber, wenn das ganze System ausfällt? Das sei nicht so schlimm, meint Hess. Dann haben die Schweine einfach nur ihre Wohnung mit Balkon zur Verfügung und keinen Spielplatz. «Deswegen stirbt das Schwein nicht gleich».

Zum Wohl der Tiere

Auch hier zeigt sich ein Unterschied des Systems Wiesenschwein zu anderen Ansätzen der bäuerlichen Digitalisierung. Die meisten sind dazu gedacht, dem Bauern Arbeit abzunehmen – und ermöglichen ihm so, den Betrieb zu vergrössern. Der Ansatz des Wiesenschweins ist ein anderer: Die Automation soll dem Tier und der Umwelt zugute kommen. «International sind wir die Ersten, die etwas entwickeln, das in dieser Form dem Tierwohl dient», sagt Hess.

«Das Sozialverhalten hat sich massiv verändert. Sie spielen miteinander, massieren sich gegenseitig mit dem Rüssel – das sind Dinge, die wir vorher viel weniger beobachten konnten»Lukas Herzog, Wiesenschwein-Landwirt

In diesem Digitalisierungsprojekt werden Unmengen an Daten gesammelt, die Schweine sind Tag und Nacht ständig unter Beobachtung. «Das ist nötig, damit alles funktioniert», sagt Hess. Die Sau störe das nicht, meint er. «Aber die Daten sind ein Schatz». Denn daraus lasse sich vieles ablesen, was das Tierwohl noch weiter steigern könnte. Beispielsweise Daten über den Gesundheitszustand, da man auf den Kamerabildern jeden Kratzer sieht.

Schweine wühlen im Streu.Lukas Herzog

Die Wiesenschweine werden rund um die Uhr überwacht.

Doch lässt sich daraus auch ablesen, ob die Wiesenschweine wirklich glücklicher sind? Das habe man nicht systematisch untersucht, sagt Mirjam Holinger vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau. Es gebe aber viele Punkte, die dafür sprechen: die Tiere haben mehr Platz, mehr Abwechslung, mehr Bewegung. Dazu Wühlmaterial und eine Suhle, die für die Regulation der Körpertemperatur sehr wichtig ist. Auch das Spielverhalten sei sehr ausgeprägt, sagt die Expertin für Schweinehaltung. «Das ist ein guter Indikator dafür, dass es den Tieren gut geht». Denn kranke Tiere oder solche, die Schmerzen haben, spielen nicht. Das kann auch Bauer Lukas Herzog bestätigen: «Das Sozialverhalten hat sich massiv verändert. Sie spielen miteinander, massieren sich gegenseitig mit dem Rüssel – das sind Dinge, die wir vorher viel weniger beobachten konnten».

Das ideale Zukunftsschwein?

«Dieses Haltungssystem hat auf jeden Fall Zukunft», meint Holinger. Es brauche aber sicher noch einiges an Tüftelarbeit. «Ich könnte mir vorstellen, dass es am Schluss auf ein Wühlschwein hinausläuft statt auf ein Wiesenschwein». Dies, weil die Weide eine grössere Herausforderung darstelle als der Spielplatz: Sie braucht mehr Pflege und kann schneller kaputt gehen. Darum dürfen die Schweine auch nur bei trockenem Wetter raus auf die Wiese.

Die gegenwärtig grösste Hürde ist aber eine andere, und zwar der Markt. «Wiesenschwein» ist ein Label, dass sich neben den vielen anderen in der Wertschöpfungskette erst etablieren muss. «Aktuell diskutieren wir mit den orangen Riesen», sagt Oliver Hess. Es dauert lange, bis der Einzelhandel bereit ist, solches Fleisch zu verkaufen – auch wenn die Konsumierenden bereit sind, dafür zu zahlen.

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