Das musst du wissen

  • Das exponentielle Wachstum beschleunigt sich mit der Zeit.
  • Da uns diese Art der Vermehrung im Alltag kaum begegnet, können wir sie intuitiv nicht begreifen und unterschätzen sie.
  • Um sie besser zu verstehen, sollten wir von einer Verdoppelungszeit und nicht von einer Wachstumsrate sprechen.
Den Text vorlesen lassen:

In den letzten Monaten war das exponentielle Wachstum im Zusammenhang mit dem Coronavirus allgegenwärtig. Doch egal ob Ansteckungen mit dem Coronavirus, Algen in einem See oder Geld auf unserem Sparkonto – wächst etwas exponentiell, unterschätzen wir das Ausmass systematisch. Dass wir uns das intuitiv so schlecht vorstellen können, wurde während der Pandemie aber zum Problem. So hielten Personen, die die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus als zu gering einschätzten, Massnahmen wie die Distanzregel für übertrieben. Sie waren daher weniger bereit, diese einzuhalten.

Wieso uns das exponentielle Wachstum so viel Mühe bereitet, ist nicht ganz klar. Vermutlich habe es damit zu tun, dass der Unterschied zwischen den Zahlen am Anfang und am Ende sehr gross ist, sagt der Ökonom Martin Schonger vom Center for Law and Economics der ETH Zürich.

_____________

📬 Das Neuste und Wichtigste aus der Wissenschaft, jeden Dienstag und Donnerstag per E-Mail:
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️

_____________

Bei einem exponentiellen Anstieg vergrössert sich die Zahl pro Zeiteinheit um einen gewissen Faktor, zum Beispiel täglich um den Faktor drei. Starten wir an Tag eins bei drei, so wächst die Zahl an Tag zwei auf neun, an Tag drei auf 27 und an Tag vier auf 81. Am Anfang des Wachstums sehen die Zahlen also nicht aussergewöhnlich gross aus. Aber nach nur vierzehn Tagen ist die Zahl drei auf über vier Millionen angewachsen.

Ganz anders beim linearen Wachstum, wenn wir beispielsweise jeden Tag drei neue Fotos mit unserem Smartphone aufnehmen. Starten wir bei drei, vergrössert sich unsere Sammlung an Tag zwei auf sechs, an Tag drei auf neun und an Tag vier auf zwölf Bilder – in zwei Wochen haben wir 42 Fotos. Auch hier sind die Zahlen am Anfang klein, aber im Gegensatz zum exponentiellen Wachstum, sind sie das auch noch am Ende.

Neben der so extrem unterschiedlichen Zahlengrösse am Anfang und Ende gebe es einen weiteren Grund, so Schonger, warum wir exponentielles Wachstum so schlecht greifen können: Die Geschwindigkeit, die beim exponentiellen Wachstum mit der Zeit zunehme. «Das ist ein Phänomen, das wir uns im Alltag nicht gewöhnt sind».

Unserem Verständnis kann aber schon die richtige Wortwahl auf die Sprünge helfen, wie Martin Schonger und seine Koautorin Daniela Sele nun in einer aktuellen Studie zeigen. Für ihre Studie führten die Forschenden ein Experiment mit rund 450 Personen durch. Allen lag das gleiche fiktive Szenario vor: In einem Land haben sich knapp 1000 Personen mit dem Corona-Virus infiziert. Täglich wächst die Zahl der Infizierten exponentiell um 26 Prozent. Innerhalb von nur 30 Tagen stiegen die Fallzahlen so auf eine Million. Mit Massnahmen könnte die Wachstumsrate, also die 26 Prozent, jedoch auf neun Prozent gesenkt werden. Darauf basierend mussten die Probanden einschätzen, wie sich die Massnahmen auf die Fallzahlen auswirken und wie hoch die Zahlen mit und ohne Massnahmen ausfallen werden. Die Forschenden formulierten diese Fragen auf je zwei verschiedene Arten: wie viele Fälle durch die Massnahmen vermieden werden können oder wie viel Zeit man durch die Massnahmen gewinnen kann, bis eine Million Fälle erreicht sind. Auch die Geschwindigkeit des exponentiellen Wachstums präsentierten sie einmal anhand der Verdopplungszeit in Tagen und einmal anhand der Wachstumsrate in Prozent.

Science-Check ✓

Studie: Name der Studie: How to better communicate the exponential growth of infectious diseasesKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDas Experiment wurde Ende März 2020 online durchgeführt. Sowohl die Zuordnung zu den vier Gruppen als auch die Reihenfolge, in der die Fragen auf dem Bildschirm erschienen war randomisiert.Mehr Infos zu dieser Studie...

Die Resultate zeigen, dass insbesondere die Wachstumsrate schwierig zu greifen ist. Mehr als 90 Prozent der Probanden unterschätzten die Anzahl der durch Massnahmen vermeidbaren Fälle, im Schnitt um den Faktor 100. Konnten sie mit der Zeit rechnen, in der sich die Fälle verdoppeln, waren die Antworten deutlich besser – zwar immer noch zu tief, aber im Schnitt nur um den Faktor 10. Dass das Verdoppeln einer Zahl eingängiger ist und wir damit besser Kopfrechnen können als mit Prozentzahlen ist nicht ganz unerwartet.

Die genauesten Schätzungen gelangen jedoch jenen Personen, die ausgehend von der Verdoppelungszeit nach der gewonnenen Zeit gefragt wurden. Fast alle beantworteten die Frage richtig. «Dass diese Gruppe so gut war, hat uns völlig überrascht», sagt der Ökonom. Denn normalerweise sei die sogenannte exponentielle Wachstumsverzerrung eine Schwäche, die wir uns nicht abtrainieren können. Selbst wenn wir uns des Problems bewusst seien, helfe das wenig. «Auch eine Matheprofessorin wird ihnen sagen, ich muss das erst ausrechnen», erzählt Schonger. Seine Forschung zeigt nun aber, dass hier gewissermassen der Ton – also die Nennung der Verdoppelungszeit statt Wachstumsrate und der gewonnen Zeit statt vermiedenen Fälle – die Musik macht. Und sowohl das Bundesamt für Gesundheit als auch die Medien mit dem richtigen Ton dafür sorgen können, dass die Botschaften in der Bevölkerung ankommen.

Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende