Menschen mit geistiger Behinderung dürfen wichtige Entscheidungen ihres Lebens oft nicht selbst fällen. Dies übernimmt ein Beistand für sie. Doch gemäss dem Erwachsenenschutzgesetz können sogenannt höchstpersönliche Entscheidungen nicht abgegeben werden. Dazu gehört zum Beispiel eine Heirat – oder auch die Entscheidung, ob man im Sterbebett lebensverlängernde Massnahmen in Anspruch nehmen möchte. «Jeder Mensch hat das Recht, selber über sein Leben zu bestimmen», sagt Monika Wicki von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Doch wie findet man heraus, wie ein Mensch sterben möchte, wenn dieser infolge ein geschränkter Intelligenz Zusammenhänge nicht verstehen, Konsequenzen nicht abschätzen oder sich nicht verständlich ausdrücken kann? Dies untersucht Wicki im Rahmen eines nationalen Forschungsprogramms zum Thema «Lebensende».
Die Ergründung des letzten Willens geistig eingeschränkter Personen ist selbst für Ärzte schwierig. So zeigte eine Studie der Uni Zürich von 2014, dass die Mediziner sich zwar ihrer Verantwortung bewusst sind, die Urteilsfähigkeit eines Sterbenskranken zu beurteilen. Doch nur jeder Dritte fühlt sich dafür auch kompetent genug.
Wie bei behinderten Menschen Entscheidungen über das Lebensende getroffen werden, untersuchte Erziehungswissenschaftlerin Monika Wicki in sämtlichen Behindertenwohnheimen der Schweiz. Welche lebensverlängernden Massnahmen wurden getroffen? Wann wurde darauf verzichtet?
Ungleiche Behandlung
Das Ergebnis überrascht: Zwar verfügt immerhin ein Drittel der Schweizer Heime über Leitlinien zu Entscheidungen am Lebens ende. Aber nicht einmal sechs Prozent der Heime unterstützen ihre Mitarbeitenden mit konkreten Anleitungen, wie man die Entscheidungsfähigkeit der Sterbenden beurteilt. Entsprechend selten, so zeigte Wickis Untersuchung, sind Menschen mit geistiger Behinderung in die letzten Entscheidungen miteinbezogen. So ungleich ist auch ihre Behandlung am Lebensende. Das zeigt die Untersuchung von 156 Todesfällen geistig behinderter Menschen in Heimen. Bei gut einem Drittel hatte man auf künstliche Ernährung, zum Beispiel über eine Magensonde, oder auf künstliche Beatmung verzichtet. Bei nur körperlich Behinderten lehnte nur ein Zehntel solche Massnahmen ab.
Ärzte bewerten strenger
Doch wie stellen Ärzte, aber auch Betreuungspersonal und Angehörige überhaupt fest, ob eine Person mit einer geistigen Behinderung bezüglich ihres eigenen Todes urteilsfähig ist oder nicht? Um das herauszufinden, führte Monika Wicki eine weitere Studie durch. In Gesprächen wurde behinderten Personen erklärt, was zum Beispiel eine künstliche Ernährung ist. «Möchtest du, dass dieser Schlauch über deine Nase in den Magen eingeführt wird, wenn du schwer krank bist und nicht mehr essen kannst?», fragte eine Forscherin einen geistig behinderten Mann Mitte zwanzig und zeigte ihm eine Ernährungssonde. «Wääh», antwortet er. Er wolle das nicht. Aber verhungern wolle er auch nicht. Ist er nun fähig, die Konsequenzen der beiden Möglichkeiten zu verstehen und so über sein Lebensende zu entscheiden? Diese Frage mussten je 20 Ärzte, Betreuende und Angehörige bei verschiedenen Patienten entscheiden, und zwar aufgrund schriftlicher Gesprächsprotokolle und Videoaufzeichnungen. Es zeigte sich, dass die Protokolle genügend Aussagekraft zur Beurteilung besitzen. Videoaufnahmen sind hingegen weniger hilfreich. «Das Video birgt vielleicht die Gefahr, dass man aufgrund von Äusserlichkeiten des Patienten ein negatives Urteil fällt», sagt Wicki. So bedeute scheinbare Teilnahmslosigkeit des Befragten nicht unbedingt, dass dieser die Frage nicht verstanden habe.
Resultat der Befragung: Ärzte bewerten am strengsten. Sie waren häufiger der Ansicht, eine Person sei nicht urteilsfähig. Umgekehrt war es bei den Betreuungspersonen. Sie schätzten die Urteilsfähigkeit der geistig Behinderten wesentlich höher ein. «In der Praxis müssen alle Beteiligten einen Konsens finden», sagt Monika Wicki.
Entscheidungen erleichtern
Bei den Angehörigen waren die Meinungen uneinheitlich. Nach Sichtung der Protokolle und Videos plädierten einige auf «urteilsfähig», andere auf «nicht urteilsfähig». Warum dies so ist, müsse noch untersucht werden, sagt Wicki. Eine Rolle mag spielen, dass Angehörige in einem Dilemma stecken: einen geliebten Menschen am Leben erhalten oder ihn vom Leiden erlösen.
Doch was ist, wenn man nicht sicher ist, ob ein Patient die Diagnose und deren Bedeutung versteht? Wie erklärt man ihm eine komplexe Krankheit, deren Behandlung und mögliche Konsequenzen? Bei diesen Fragen hilft künftig ein von Monika Wicki und ihrem Team entwickeltes Werkzeug, das bei Heimen bereits auf grosses Interesse stösst. Es soll die Aufklärung der Betroffenen und die Entscheidungsfindung vereinheitlichen und objektivieren. Die Broschüre bietet einfache Erläuterungen und Bilder, mit denen man einem Patienten die Situation erklären kann. Ausserdem wird das Gespräch protokolliert. Das gibt Angehörigen, Betreuenden und Ärzten Sicherheit. Und vor allem: Der geistig behinderte Patient gewinnt seine Entscheidungshoheit zurück.