Das musst du wissen

  • Konflikte wie der Ukrainekrieg führen im betroffenen Land zu einer grossen Ernährungsunsicherheit.
  • Aufgrund des Krieges stehen aktuell rund 45 Millionen Menschen am Rande einer Hungersnot.
  • Helfende bringen Lebensmittel in ukrainische Grossstädte. Erschwert wird dies durch Bombardierungen vor Ort.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) steht vor einer Krise. Gerade erst hat die Institution ihr fünfzigjähriges Bestehen gefeiert, nun bringt der Ukraine-Krieg Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit, die weltweit spürbar sein werden. Wie sehen die Nahrungsmittelhilfeorganisationen der Vereinten Nationen den aktuellen Konflikt und wie organisieren sie sich angesichts der Tatsache, dass die Ukraine einer der Hauptlieferanten ist?

Antworten gibt Abeer Etefa, eine ehemalige Journalistin und Sprecherin des WFP. Sie berichtet vor allem über den Nahen Osten und Nordafrika.

Abeer Etefa, steht die Welt nach zwei Jahren Covid-19 und nun dem Krieg in der Ukraine vor der grössten Herausforderung in Bezug auf die Ernährungssicherheit seit Jahrzehnten?

Abeer Etefa: Dies ist in der Tat ein beispielloses Jahr, was den Bedarf an Nahrungsmitteln angeht. Die Welt kann sich keinen weiteren Konflikt leisten. Konflikte führen zu grosser Ernährungsunsicherheit, die wiederum das Risiko von Gewalt erhöht. Der Konflikt in der Ukraine ist eine Katastrophe und verschlimmert ein Jahr, das in Bezug auf den Hunger in der Welt bereits katastrophal ist. Die Welt leidet bereits unter Klimaschocks, Konflikten, Covid-19 und steigenden Lebensmittelpreisen. Die Kombination all dieser Faktoren bringt Millionen von Menschen näher an Hunger und Hungersnot und damit an mehr Migration und Destabilisierung. In diesem Jahr stehen wir an einem Scheideweg. 

Inwiefern?

Entweder stellen wir uns der Herausforderung, die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Oder wir sind sogar mit einem auf der ganzen Linie schwerwiegenderen Problem konfrontiert. Es wird mit Sicherheit ein schwieriges Jahr, denn die Welt hat bereits unter den Lebensmittelpreisen gelitten, nun haben wir die zusätzliche Herausforderung des Konflikts in der Ukraine.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Menschen aufgrund des Krieges in der Ukraine direkt oder indirekt von Hunger betroffen sein werden?

Wir können keine genaue Schätzung machen. Ich kann nur sagen, dass das WFP geplant hatte, etwa 137 Millionen Menschen zu unterstützen. Von den 280 Millionen Menschen, die unter Ernährungsunsicherheit leiden, stehen etwa 45 Millionen am Rande einer Hungersnot [Anm. d. Red.: 2019 waren es 27 Millionen]. 2022 wird also ein sehr schwieriges Jahr werden.

Um welche Länder machen Sie sich am meisten Sorgen?

Tatsache ist, dass sowohl Russland als auch die Ukraine für rund dreissig Prozent der weltweiten Weizenexporte verantwortlich sind. Ein Produktions- und Exportstopp wird die Lebensmittelpreise weltweit in die Höhe treiben und die ohnehin schon gestressten Menschen noch mehr in den Hunger treiben. Es gibt kein bestimmtes Land, das gefährdet ist, sondern alle Länder, die grosse Mengen an Lebensmitteln importieren. Insbesondere Weizen, Sonnenblumenöl oder grünes Gemüse. Ich denke dabei an den Nahen Osten und die nordafrikanische Region sowie an einige afrikanische Länder wie Jemen, Libyen, Tunesien oder auch den Libanon.

Sie stammen aus Kairo in Ägypten, einem wichtigen Importeur von ukrainischem Weizen. Haben Sie Rückmeldungen über die Situation vor Ort erhalten?

Normalerweise wohne ich in Kairo, aber seit Beginn des Konflikts bin ich in Polen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Länder, die von Russland und der Ukraine abhängig sind, Massnahmen ergreifen – aber natürlich wird das Budget der Bevölkerung vor Ort stark belastet werden. Es ist aktuell noch etwas zu früh für Informationen. Aber die Weltmarktpreise für Weizen sind um vierzig Prozent in die Höhe geschnellt. Daher denke ich, dass viele Länder derzeit um mögliche Wege kämpfen, ihre Versorgung zu erhöhen. Der Libanon zum Beispiel importiert sechzig Prozent seines Weizens aus der Ukraine. Die Regierung versucht daher, den Zugang zu Nahrungsmitteln zu sichern, indem sie sich auf andere Produzenten konzentriert – insbesondere die USA und Kanada.

Der Anstieg der Lebensmittelpreise Ende der 2000er Jahre war eine der Triebfedern des Arabischen Frühlings. Ist mit weiteren Protesten der Zivilgesellschaft zu rechnen, oder gar kriegerischen Auseinandersetzungen?

Diese Bewegung war das Ergebnis mehrerer Faktoren. Essen war einer davon, aber Sie wissen ja, dass die Umstände anders waren. Im Allgemeinen sind wir jedoch der Ansicht, dass Konflikte die Hauptursache für Hunger sind und dass Hunger zu politischer Instabilität und Gewalt führt. Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen Hunger und Konflikten. Sicher hoffen wir, dass es nicht so weit kommen wird, wir sind äusserst besorgt. Die Länder organisieren ihre eigenen Vorbereitungen, beispielsweise Notstandsgesetze, daher ist es für mich schwierig, Vorhersagen zu treffen.

Man kann sich jedoch vorstellen, dass das WFP seine Aktionen in diesen Ländern möglicherweise verstärken muss.

Ja. Das Problem ist: Wir müssen uns bereits um die Bedürfnisse von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt kümmern. Das wird eine grosse Herausforderung für uns. Wir stehen bereits vor der Schwierigkeit, Finanzmittel zu beschaffen und Nahrungsmittel in bedürftige Länder zu bringen. Zum Beispiel in den Jemen – ein Land mit nur elf Prozent landwirtschaftlicher Kapazität. Was in der Ukraine passiert, hat bereits Auswirkungen auf unsere eigenen Operationen. Die Ukraine ist unser zweitgrösster Handelspartner, von dort beziehen wir Lebensmittel, die wir dann in die ganze Welt zu den Brennpunkten der Hungersnot schicken.

Wie passen Sie sich an? Werden Sie Ihre Lieferanten wechseln oder müssen Sie Ihre Lebensmittelversorgung einschränken?

Ich möchte betonen, dass die steigenden Lebensmittel- und Ölpreise die Kosten für die Operationen des WFP erhöhen. Dies bedeutet einen Anstieg der Betriebskosten um bis zu 71 Millionen Euro pro Monat. Infolgedessen wird unsere Fähigkeit, Bedürftigen zu helfen, eingeschränkt. Und das zu einer Zeit, in der die Welt ein beispielloses Hungerjahr erlebt. Das ist sehr traurig. Wir hoffen, dass unsere Geber [an erster Stelle die USA, Deutschland, Grossbritannien und die Europäische Kommission, Anm. d. Red.] sich mobilisieren und versuchen werden, uns zu helfen.

Sie befinden sich derzeit an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Wie ist die Situation vor Ort?

Zunächst einmal waren wir bei WFP sehr besorgt über die Auswirkungen des Konflikts auf die Sicherheit der Ukraine und die Fähigkeit der Familien, sich zu ernähren. Wir haben hauptsächlich an Massnahmen gearbeitet, um die kommerzielle Versorgungskette innerhalb der Ukraine zu sichern. Die Menschen sind in den grossen Städten gefangen. Derzeit bringen wir Brot in Grossstädte wie Charkiw. Wir versuchen, den internen Bedarf so weit wie möglich zu decken, aber das ist mit den Bombardierungen vor Ort schwierig. In zwei Wochen werde ich nach Ägypten zurückkehren, wo ich mich weiterhin auf die Ukraine konzentrieren will. Diesem Land wird innerhalb des WFP viel Aufmerksamkeit gewidmet.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende