Wer kennt dieses Gefühl nicht? Man sitzt bei einer Adventsfeier mit Freunden und Familie beisammen, redet miteinander – und fühlt sich dennoch einsam. Die meisten von uns haben auch die gegenteilige Situation schon erlebt: Man fährt ganz alleine für ein paar Tage in die Ferien – und ist glücklich und zufrieden damit, ohne andere unterwegs zu sein, nur von sich selbst unterhalten zu werden. Alleinsein und Einsamkeit – was bedeutet das überhaupt? Und wie finden wir die richtige Balance?

«In der Wissenschaft machen wir einen deutlichen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit», sagt Maike Luhmann, Psychologieprofessorin mit den Forschungsschwerpunkten Einsamkeit und Lebenszufriedenheit an der Universität Bochum. «Unter Alleinsein verstehen wir, dass kein anderer Mensch am selben Ort ist wie wir. Einsamkeit hingegen ist ein Gefühl. Die sozialen Beziehungen, die man hat, scheinen nicht mehr auszureichen. Es sind zu wenige oder sie sind in der Qualität nicht gut genug.»

@RUB, Kramer

Maike Luhmann, Psychologin an der Universität Bochum.

Der Schlüssel ist die Freiwilligkeit

Heisst das im Umkehrschluss, dass jeder, der zeitweise gerne allein ist, irgendwann zwingend einsam wird? Die Psychologin verneint: «Menschen, die alleine sind, haben natürlich eine höhere Neigung, sich einsam zu fühlen, aber das ist kein Automatismus.»

Unter welchen Umständen das Alleinsein ein positiver Gemütszustand ist und wann wir uns quälend einsam fühlen, ist also nicht so einfach zu beantworten. Aber ein Punkt ist Maike Luhmann doch ganz wichtig: «Wichtig ist die Freiwilligkeit, die Kontrollierbarkeit der Situation. Einsame Menschen haben das Gefühl, sie können nichts an ihrem Zustand ändern, sie seien der Einsamkeit ausgeliefert.»

Wir sind soziale Wesen – das betont John Cacioppo, Professor an der Universität Chicago, immer wieder. Er hat ein Buch über die Einsamkeit geschrieben, in dem sie ein Stück ihres Schreckens verliert. «Einsamkeit ist ein in den Genen festgeschriebenes Alarmsignal, das einer überlebenswichtigen Funktion dient», schreibt Cacioppo. Er vergleicht die Einsamkeit immer wieder mit dem Hunger. Der Hunger ist auch kein angenehmes Gefühl, aber er hat eine wichtige Funktion: Er erinnert uns daran, dass wir essen sollten. Sonst würden wir früher oder später sterben. Mit der Einsamkeit verhält es sich ähnlich: Sie erinnert uns daran, dass wir soziale Beziehungen pflegen sollten. Denn der Mensch ist ein Wesen, das die Gemeinschaft zum Überleben immer schon gebraucht hat.

Die Begleiter der Einsamkeit

Aber wie ist es heute? Nimmt die Einsamkeit in unserer Gesellschaft zu, weil wir andere Menschen nicht mehr so unmittelbar brauchen, um uns vor wilden Tieren zu schützen oder Nahrung zu finden? Ist das Streben nach Individualität so gross geworden, dass nun immer mehr Menschen den Preis der Einsamkeit zahlen müssen? «Man hört die These oft, dass die Einsamkeit in unserer Gesellschaft zunimmt», sagt Psychologin Maike Luhmann, «aber ich halte mich mit einer Aussage diesbezüglich zurück. Das Problem ist: Wir haben keine verlässlichen Daten darüber, wie es den Menschen früher ging. Deshalb können wir das gar nicht genau untersuchen.»

«Wir wissen, dass chronische Einsamkeit zu gesundheitlichen Problemen führt. Einsame Menschen sterben früher.»Maike Luhmann, Psychologin an der Universität Bochum.

Das Problem war ohnehin zu keiner Zeit, dass Menschen ab und zu einsam waren. Ein echtes Problem entsteht erst, wenn das Gefühl der Einsamkeit chronisch wird. Maike Luhmann: «Wir wissen, dass chronische Einsamkeit zum Beispiel zu psychischen Problemen führt wie Depressionen, aber auch zu Angstzuständen oder Herz-Kreislauf-Problemen.» Einsame Menschen sterben sogar früher.

Fakt ist aber auch, dass der Mensch sich immer wieder aus engen Gemeinschaften befreien will und sich nach dem Alleinsein sehnt. Aber wie nur die Balance halten zwischen Gemeinschaft, Alleinsein und drohender Einsamkeit? John Cacioppo zitiert in seinem Buch eine Frau, die genau um diese Balance kämpft: «Manchmal isoliere ich mich wochenlang, gehe auch nicht ans Telefon, und dann scheine ich plötzlich Berührungen zu brauchen. Manchmal strecke ich meine Hand aus und berühre einfach jemanden am Arm oder an der Hand. Letztes Jahr habe ich den Beschluss gefasst, mehr Blickkontakt mit Menschen zu suchen und jeden Tag fremden Menschen Hallo zu sagen. Ihre Reaktion überrascht mich. Das hebt meine Stimmung sehr.»

Es gibt kein Patentrezept dafür, wie die perfekte Balance bei sozialen Beziehungen aussieht. Maike Luhmann weist darauf hin, dass jeder Mensch seine eigenen Bedürfnisse hat. Der Extravertierte fühlt sich schneller einsam als der Introvertierte – dafür knüpft der Extravertierte schneller Kontakte. Ausserdem ändern sich die Bedürfnisse der Menschen je nach Lebensphase. «Einer Theorie zufolge tritt Einsamkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit dann auf, wenn die eigenen Lebensumstände nicht so ganz zu dem passen, was andere Menschen im selben Alter erleben», erklärt Maike Luhmann. In den Zwanzigern etwa ist es vielen Menschen wichtig, ganz viele Freunde zu haben. Ab den Dreissigern spielt die Anzahl der Freunde keine so grosse Rolle mehr. Die Qualität der Beziehungen wird wichtiger.

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Auch in Gesellschaft kann man sich einsam fühlen. Zum Beispiel weil die sozialen Kontakte nicht die erhoffte Qualität haben.

Gemeinsam einsam

Laut Maike Luhmann gibt es keine Lebensphase, in der das Alleinsein generell erwünscht ist. Zwischendurch allein zu sein, sieht sie als Möglichkeit zur Stressregulation. Aber: «Immer allein zu sein, ist für die meisten Menschen keine zufriedenstellende Lösung», sagt sie. Es gebe allerdings Phasen, in denen es nicht ganz so schlimm sei, allein zu sein. Ab etwa 80 Jahren gibt es viele Alleinstehende, vor allem sind das verwitwete Frauen. Das ist nicht schön, aber relativ normal. Und das macht die Situation ein kleines bisschen einfacher. «Menschen, die schon mit 50 oder sogar schon mit 30 Jahren verwitwet sind, haben es schwerer.» Das heisst: Die Einsamkeit ist nicht ganz so schlimm, wenn man sich in ihr nicht völlig allein fühlt.

Wen aber die chronische Einsamkeit – egal in welchem Lebensalter – erwischt hat, für den ist es laut John Cacioppo besonders schwierig, wieder soziale Beziehungen aufzubauen. Er erklärt das so: «Die ersten Menschen erhöhten ihre Überlebenschancen, wenn sie zusammenblieben.» Die Evolution hat also dafür gesorgt, dass wir uns in Gesellschaft gut fühlen und bei unfreiwilligem Alleinsein schlecht. Und wir fühlen uns im Beisein anderer nicht nur gut, sondern auch sicher. Evolutionsbedingt fühlen wir uns also in isolierter Lage so unsicher, als würden wir körperlich bedroht werden. Einsamkeit kann so zu einem körperlichen Schmerz werden.

Was vor Einsamkeit schützt

Der chronisch Einsame fängt an, überall Gefahren zu wittern, schätzt andere Menschen und ihre Absichten falsch ein und fühlt sich leicht angegriffen. Maike Luhmann verdeutlicht: «Stellen Sie sich vor, im Bus steht eine grimmig aussehende Person. Eine sozial gut eingebundene Person würde erkennen, dass die Person gerade in ihrer eigenen Welt ist, müde oder schlecht gelaunt. Eine chronisch einsame Person würde vielleicht denken, oh nein, der mag mich auch nicht.» Und John Cacioppo bilanziert: «Die traurige Ironie bei der ganzen Sache ist, dass diese durch Ängste hervorgerufenen Verhaltensweisen oft genau die Ablehnung hervorrufen, die wir alle am meisten fürchten.»

Diese Denkmuster zu durchschauen, könne einsamen Menschen schon helfen, so Maike Luhmann. Damit es gar nicht erst soweit kommt, empfiehlt sie präventive Massnahmen: «Wenn man genug soziale Kontakte hat, sollte man das Netzwerk der Menschen, die einen durchs Leben begleiten, auch pflegen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass immer jemand da ist, wenn man Kontakte braucht.»

SERIE

Psychologie des Alleinseins

Der 2. Teil der Serie lotet die Extremsituation Einzelhaft aus. Was macht die unfreiwillige soziale Isolation mit den Menschen? Ein kritischer Blick auf eine übliche Praxis.

 

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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