Es ist Jahrzehnte her, dass im Zürcher Kantonsrat über die Abschaffung der Einzelhaft abgestimmt wurde. Das Ansinnen kam wegen einer einzigen Stimme nicht durch. Und so ist die Situation heute noch immer dieselbe wie damals: Im Kanton Zürich ist es üblich, dass Untersuchungshäftlinge bis zu 23 Stunden am Tag allein in eine Zelle gesperrt werden. In anderen Kantonen sind das vielleicht auch mal «nur» bis zu 21 Stunden. So oder so: Alleinsein wirkt sich in der Praxis der Untersuchungshaft äusserst destruktiv aus – auf Menschen für die notabene die Unschuldsvermutung gilt.

Deswegen gibt Reto Volkart, Leiter des Zürcher Zentrums für Psychotherapie, zu bedenken: «Vielen Leuten geht es in dieser Situation so schlecht, dass ein massiver Geständnisdruck erzeugt wird. Und das ist ein anderes Wort für Folter.» Der Fachpsychologe hat schon in den 1980er-Jahren zusammen mit Kollegen verschiedene Studien an Häftlingen im Kanton Zürich durchgeführt. Diese hatten zwar viel Echo ausgelöst, aber, wie Volkart feststellt: «Das Thema verschwindet immer wieder in der Versenkung, nur wenn etwas passiert, wird es hochgekocht.»

Potenziell traumatisch

Dabei ist man nie so allein wie im Untersuchungsgefängnis. Natürlich gibt es auch dort soziale Interaktionen, zum Beispiel mit dem eigenen Anwalt. Aber man kann nicht selbst darüber bestimmen, ob und wann man mit jemandem telefonieren, geschweige denn jemanden treffen kann. Reto Volkart umreisst die Ausnahmesituation genauer: Da ist einmal der Reizentzug, der Häftling wird von Eindrücken abgeschirmt. Ausserdem wird er sozial isoliert und räumlich extrem eingeengt. Das alles diene einem ganz bestimmten Zweck: der Erzeugung eines Geständnisses. Gemäss Volkart ist das Ganze «potenziell traumatisch».

Bei manchen Häftlingen können schnell massive psychische Auswirkungen beobachtet werden. Der Psychotherapeut zählt so viele Symptome auf, dass es schwindlig macht. Wegen der Reizunterversorgung könne es zu halluzinatorischen Phänomenen kommen. Der Gefangene hört und sieht also Dinge, die nicht da sind. Manchmal steigere sich das bis zum paranoiden Verfolgungswahn. Viele Einzelhäftlinge hätten ausserdem mit grossen Ängsten zu kämpfen; vor dem Sterben, vor Krankheiten. Im Unterschied zu Gemeinschaftshäftlingen hätten sie in den Studien sehr oft den Satz geäussert: «Ich hatte das Gefühl, es würde etwas Schreckliches passieren.»

Manche Menschen würden in der Untersuchungshaft emotional extrem instabil, sodass sie wegen nichtigen Auslösern ausrasten – «Zuchthausknall» wird das genannt. Andere wiederum verfielen in Apathie und Depression. Das erzwungene Alleinsein könne zudem kognitive Beeinträchtigungen zur Folge haben: Sätze können nicht mehr richtig formuliert werden, sich zu konzentrieren geht nicht mehr. Und manche Gefangene fühlen sich sehr beeinflussbar. Sobald sie nämlich mit einer Person reden können − was in dieser Situation oft in den Verhören der Fall ist − seien sie sehr auf diese fixiert und passten sich ihr an.

«Nicht menschenrechtskonform»

In der Isolation der Einzelzelle kann es auch dazu kommen, dass sich jemand selbst als fremd wahrnimmt, oder so, als ob es ihn selbst nicht mehr geben würde. Depersonalisation nennt sich dieses Phänomen. Wer monatelang in Einzelhaft verbringt, entwickelt oft auch körperliche Symptome, wie Volkart erklärt: Schwindel, Schweissausbrüche, Schlaf- und Verdauungsstörungen.

In der Schweiz ist es der Normalfall, dass in Untersuchungsgefängnissen Einzelhaft angeordnet wird. Das ist gemäss Volkart nicht menschenrechtskonform. Auch der Zürcher Strafverteidiger Diego R. Gfeller findet: «Wenn man monatelang allein in eine Zelle eingesperrt ist, 23 Stunden am Tag ohne Möglichkeit zu sozialer Interaktion, dann ist das aus Sicht der Menschenrechtskonvention fragwürdig.» Er ist ausserdem davon überzeugt, dass es aufgrund der Bedingungen zu falschen Geständnissen kommen kann. Die Entlassung aus der Haft werde regelmässig subtil oder offen an ein Geständnis geknüpft. So scheine es einem Gefangenen bisweilen die bessere Option zu sein, ein falsches Geständnis abzulegen, selbst wenn er in einer späteren Gerichtsverhandlung freigesprochen werden könnte. Gerade Schweizerinnen und Schweizern ohne Vorstrafen, denen keine schweren Taten vorgeworfen werden, drohe nach einem Geständnis schliesslich oft «nur» eine Geldstrafe auf Bewährung. Dabei würden aber die Auswirkungen der Verurteilung oft unterschätzt; zum Beispiel Stellenverlust, der Verlust des Fahrausweises, Schadenersatzzahlungen, ein kaputtes Ansehen.

Der Unschuldige und das Geständnis

In Untersuchungshaft zu sitzen, ist eine psychologische Extremsituation. Die Menschen entwickeln unterschiedliche Strategien, um das erzwungene und umfassende Alleinsein auszuhalten. Psychotherapeut Reto Volkart erzählt von Häftlingen, die in der Fantasie durch ganz Europa reisen. Oder sich hochkomplexen mathematischen Problemen widmen. Grundsätzlich könne man sagen, dass «Leute, die aktiv versuchen, den Wirkungen der Einzelhaft entgegenzutreten, sie auch besser aushalten». Manche würden sich täglich zu Gymnastik zwingen, andere beten oder meditieren. Viele würden mit allen Mitteln versuchen, die soziale Isolation zu durchbrechen, «durch Zettelchen, versteckte Nachrichten oder Klopfzeichen» − oder indem sie sich intensiv mit den Insekten in der Zelle befassten.

Anwalt Gfeller hat ausserdem ein interessantes Phänomen beobachtet: «Wer sich als Opfer der Situation und unschuldig im eigentlichen Sinne versteht, für den ist die Untersuchungshaft eine grössere Belastung, als für den, der weiss, dass er etwas gemacht hat, dies aber vor Gericht nicht zugeben will.» Das Verständnis für die eigene Schuld sei ein entscheidender Faktor für die Frage, wie man die Untersuchungshaft verkrafte.

SERIE

Psychologie des Alleinseins

Im 1. Teil der Serie geht es ums Alltägliche Alleinsein, um die Grenze zwischen Alleinsein und Einsamkeit und darum, ob chronische Einsamkeit krank macht.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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