Das musst du wissen

  • Mehr als 40 Prozent des europäischen Gases und 25 Prozent des Öls stammen aus Russland.
  • Diese Abhängigkeit könnte sich aber auch gegen Russland wenden: Sanktionen würden den Geldbeutel des Kreml belasten.
  • Doch als Alternativen reichen erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie allein nicht aus.

«Wenn Sie Auto fahren, fahren Sie mit Putin!» Dieser Slogan kursiert in den sozialen Netzwerken als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Er ist ein Echo auf den jüngsten Aufruf, die Finanzierung von Gas und Öl aus Russland zu boykottieren, die nach Ansicht der Umweltbewegung «Extinction Rebellion Ukraine» den Krieg anheizt. «Wenn Sie Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigen wollen, müssen Sie einen Weg finden, auf das Öl und Gas zu verzichten», schrieb der Journalist und Umweltaktivist Bill McKibben Ende Februar. Am Tag zuvor hatte der britische Premierminister Boris Johnson erklärt, Europa müsse sich von russischem Gas trennen, um Putins wirtschaftlichen Einfluss auf die westliche Politik zu beschränken. Wäre eine solche Sanktion denkbar?

Der Treibstoff des Krieges. Sanktionen gegen den Kreml werden verhängt, aber bislang betreffen sie nicht den Export von Treibstoff aus Russland. Nicht ohne Grund: Über vierzig Prozent des europäischen Gases und 25 Prozent des Öls stammen aus Russland. Die Quote liegt für Deutschland bei 65 Prozent. Unser Nachbarland setzt bei seiner Energiewende auf die Entwicklung neuer Gaskraftwerke, um die Kohle zu ersetzen und die Unstetigkeit der erneuerbaren Energien auszugleichen – und plant nun, einige seiner Atomkraftwerke länger zu nutzen.

Eine Abhängigkeit, die in Zukunft weiter verschärft wird: Dies durch den Anstieg der Gaspreise sowie den Bau der Pipelines «Nord Stream 1» (bisher in Betrieb) und «Nord Stream 2» (vorübergehend ausgesetzt), die Russland über die Ostsee mit Deutschland verbinden. In dieser Position der Stärke droht der Kreml damit, der Europäischen Union mitten im Winter den Gashahn zuzudrehen. Ein geopolitischer Hebel, der nach Ansicht von Experten die ukrainische Invasion erleichtert haben soll.

Den russischen Einfluss drosseln? Diese Abhängigkeit könnte sich aber auch gegen Russland wenden. Europa – und die Schweiz – sind auf russische Gaslieferungen angewiesen, doch eine Sanktion auf Gas- und Ölimporte, die sechzig Prozent der russischen Exporte und fast ein Drittel des russischen Bruttoinlandsprodukts ausmachen, würde den Geldbeutel des Kreml stark belasten. Im Oktober letzten Jahres verdiente Russland täglich über 500 Millionen US-Dollar durch den Verkauf fossiler Brennstoffe.

Siehe auch: Krieg in der Ukraine und russisches Gas: «Wir steuern auf eine Stromknappheit in der Schweiz zu.»

«Russland schiesst sich ins eigene Knie», sagt Giacomo Luciani, Experte für Energiegeopolitik und Professor am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf und fügt hinzu:

«Dieser Krieg sendet die starke Botschaft an Europa, dass es seine Abhängigkeit von russischem Öl und Gas verringern muss. Kurzfristig ist das nicht möglich, aber in einigen Jahren werden die Gasverträge allmählich auslaufen und wahrscheinlich nicht verlängert werden.

Es ist denkbar, dass Europa zunächst versuchen wird, seine Nachfrage nach russischem Gas von vierzig Prozent auf zwanzig oder 15 Prozent zu senken. Beim Öl gibt es keine vertraglichen Verpflichtungen, und die Anpassung könnte schneller erfolgen.»

Die Alternativen. Ist eine solche Trennung realisierbar und wie würde Europa diese neue Energielücke schliessen? «Die Frage ist, ob die Europäische Union ihre Energieversorgung ohne russisches Gas sicherstellen kann», sagt Andrei Covatariu, Mitbegründer des ökologischen Wirtschaftsforschungsnetzwerks ECERA, Senior Researcher bei der Energy Policy Group (EPG) in Bukarest und Experte für Energiedigitalisierung bei der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE).

Der Energie- und Klimaexperte erinnert in einer Videokonferenz von Rumänien aus – dem Nachbarland der Ukraine, das bereits 43 000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat – daran, dass es kurzfristig kein Wundermittel gibt, um sich von den russischen fossilen Brennstoffen zu verabschieden:

«Auch wenn sich der Winter dem Ende zuneigt, sind die europäischen Gasreserven mit 32,6 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit fünf Jahren. Dies ist vor allem auf die Engpässe Ende Dezember zurückzuführen. Andere Gaslieferanten wie Norwegen und die Niederlande haben ihre Produktion bereits voll ausgeschöpft. Dies ist ein wesentlicher geopolitischer Hebel für Russland.»

Flüssiges Erdgas ist ein teurer Plan B. Eine weitere Option ist verflüssigtes Erdgas (LNG), das von anderen Lieferanten wie Katar, Australien und den USA per Frachtschiff nach Europa transportiert werden kann. Andrei Covatariu hält einen ausreichenden Einsatz von LNG in absehbarer Zeit für schwierig: «LNG erfordert eine neue Infrastruktur, deren Aufbau Jahre dauern kann. In Deutschland gibt es zum Beispiel noch keine Terminals. Das würde den ohnehin schon exorbitanten Gaspreis noch weiter in die Höhe treiben.» Vor kurzem kündigte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz den Bau von zwei Terminals für verflüssigtes Erdgas an.

Für den rumänischen Forscher besteht die kurzfristige Alternative darin, die Gasversorgung von anderen Lieferanten mit einer Senkung der Energienachfrage zu kombinieren. Dies möglicherweise durch eine zeitweilige Einschränkung des Verbrauchs grosser energieintensiver Industrien.

Eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzen? Julian Popov, bulgarisch-britischer Experte für Energiegeopolitik und Mitglied der European Climate Foundation, ist der Ansicht, dass der Ersatz von russischem Gas durch katarisches oder US-amerikanisches Gas das Problem nur verlagert:

«Gas ist ein fossiler Brennstoff, der CO₂ ausstösst, und sollte nicht als Übergangsenergie betrachtet werden. Die aktuelle Verlegenheit, in der sich Europa aufgrund seiner Abhängigkeit von russischem Gas befindet, verschärft diese Situation noch. Werden wir nun aus unseren Fehlern lernen und anfangen, uns von dieser fossilen Energie zu trennen, oder verlagern wir diese Abhängigkeit einfach auf andere Nationen?»

5 grosse silberne kugelförmige Gastanks in grüner LandschaftUnsplash / Patrick Federi

Gaskugeln in Schlieren.

Ein Comeback der Atomenergie? Am 31. Dezember zog Deutschland den Stecker bei drei seiner letzten sechs Atomkraftwerke. Unser Nachbarland plante, bis Ende Jahr vollständig aus der Atomenergie auszusteigen. Julian Popov meint, dass die Atomkraft wieder auf den Tisch kommen könnte:

«Deutschland könnte unter Druck geraten, die Laufzeit seiner Atomkraftwerke zu verlängern. Wenn es sie zum Beispiel um fünf Jahre verlängert, könnte das ausreichen, um die Speicherung von erneuerbaren Energien auszubauen und die Energieeffizienz zu verbessern. Das wäre eine vorläufige dekarbonisierte Alternative, die sich positiv auf das Klima auswirkt.»

Tatsächlich erwägt die deutsche Regierung seit kurzem, einige Kernkraftwerke über den 31. Dezember 2022 hinaus zu betreiben.

Gemäss Giacomo Luciani, Professor am Hochschulinstitut IHEID,

«müssen wir die Illusion aufgeben, dass die neuen erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie allein den Energiebedarf kurzfristig decken können. Die einzige Möglichkeit, schnell zu dekarbonisieren, besteht darin, erneuerbare Energien mit Kernkraft zu kombinieren, wie es Frankreich plant. Mit dem Wunsch, seine Atomkraftwerke abzuschalten, macht Deutschland einen katastrophalen Fehler. Dies führt unweigerlich dazu, dass die CO2-Emissionen und der Einsatz von Kohle in Europa im letzten Jahr steigen werden.»

Andrei Covatariu weist jedoch auf Schwierigkeiten hin, die den Einsatz von erneuerbaren Energien und Atomkraft verlangsamen könnten:

«Wir können nicht über Nacht auf erneuerbare Energien umsteigen. Auch wenn diese Technologien heute rentabler geworden sind, bleibt ihre Herstellung immer noch energieintensiv. Zudem hängt sie von Mineralien ab, die hauptsächlich aus China stammen – das sich Russland stark angenähert hat.

Da die Energiepreise in die Höhe schnellen, ist mit einem progressiven Anstieg der Produktionskosten für erneuerbare Energien zu rechnen, was die Energiewende verlangsamen könnte. Auch bei der Kernenergie dauert der Bau neuer Kraftwerke mehrere Jahre. Diese Alternative ist eher auf längere Sicht denkbar.»

Eine Energiewende in Zeiten des Krieges. Ob es nun darum geht, auf andere Lieferanten zurückzugreifen oder die Energiequellen zu diversifizieren: Kurzfristig gibt es keine Patentlösung, um schnell vom russischen Gas wegzukommen. Mittel- und langfristig könnte diese Erkenntnis der Energiewende jedoch einen Schub verleihen. Für Andrei Covatariu ist dies der Kern der Frage: «Wird diese Krise die Energiewende beschleunigen oder verlangsamen? Alles wird davon abhängen, wie die europäischen Länder reagieren.»

Der Experte für Energiegeopolitik Julian Popov stellt fest:

«Erstmals ist unsere Abhängigkeit von russischem Gas zu einer vorrangigen Frage der nationalen Sicherheit geworden, und nicht nur des Klimas. Dieser Krieg wird unweigerlich Auswirkungen auf die Klimapolitik haben, aber es ist noch zu früh, um zu sagen, in welche Richtung.»

Bevor er eine Befürchtung teilt:

«Wie in jedem Krieg werden Umweltfragen in den Hintergrund gedrängt. Es besteht die Gefahr, dass die Lebensdauer von Kohlekraftwerken übereilt verlängert wird – wie für die lokal verfügbare Braunkohle. Das wäre für das Klima folgenschwer.»

Auf dem Weg zur Energieautarkie? Der Krieg in der Ukraine könnte in Verbindung mit der Energieabhängigkeit Europas dazu führen, dass die Länder eine Politik verfolgen, die sich stärker auf die Energieunabhängigkeit konzentriert. «In Zeiten des Krieges wird die Selbstversorgung zum Schlüsselfaktor», erklärt Julian Popov. «Der Vorteil von erneuerbaren Energien ist, dass man nach dem Aufbau der Infrastruktur nur noch von lokalen Ressourcen wie Wasser, Sonne und Wind abhängig ist. Langfristig können wir also nicht nur mit einem schnelleren Ausbau dieser Energien rechnen, sondern auch mit einer Stärkung des Metallrecyclings und der Kreislaufwirtschaft.»

Andrei Covatariu fügt hinzu:

«Langfristig sagen Experten voraus, dass die Energiegeopolitik weniger angespannt sein wird als heute, da die Energieproduktion stärker lokal verankert sein wird. Die schwierige Frage ist, wie wir dieses Stadium erreichen können und was uns das kostet.»

Für Julian Popov könnte dies durch eine Senkung der Energienachfrage erreicht werden: «In Krisensituationen ist Energieeffizienz einer der ersten Schritte. Es gibt viele Studien, die belegen, dass die Isolierung von Gebäuden die Abhängigkeit von Russland verringern könnte, aber bisher wurden sie weitgehend ignoriert. Vielleicht beginnen die Politiker angesichts dieser Krise, zuzuhören.»

Giacomo Luciani bestätigt:

«In den reichen Ländern ist die Reduzierung des Verbrauchs eine relativ einfache Lösung. Aber die Bevölkerung sträubt sich dagegen, wie man an der Ablehnung des CO2-Gesetzes im Juni 2021 sehen konnte, das eine Lenkungsabgabe zur Einschränkung des Energieverbrauchs vorsah.

So explodieren die Verkaufszahlen von SUVs, und es werden noch 2022 ölbeheizte Gebäude gebaut. Diese energieintensiven Verhaltensweisen verstärken unsere Abhängigkeit von ausländischen fossilen Energieträgern. Heute müssen wir die Konsequenzen tragen.»

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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