Im Interview verrät der Psychologe Benjamin Wolf, wieso wir es so schlimm finden, eine getroffene Wahl aufzugeben, und warum die Krise, die wir in diesem Moment erleben, sogar Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann.

Benjamin Wolf, Sie untersuchen den Entscheidungskonflikt, den Menschen erleben, wenn sie vor der Wahl stehen, ein persönliches Ziel aufzugeben oder es weiterhin zu verfolgen. Wieso tun wir uns überhaupt so schwer, uns von unseren Zielen zu lösen?

In erster Linie, weil der Gedanke etwas aufzugeben sehr unangenehm oder sogar bedrohlich für uns ist. Besonders dann, wenn es etwas ist, an dem wir schon länger gearbeitet haben und das uns bisher ein wichtiges Anliegen war. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist das Aufgeben eines Projekts ein Widerspruch zu unserem früheren Verhalten. Wenn ich zum Beispiel über eine längere Zeit ein bestimmtes Hobby verfolge, dann aber damit aufhöre oder es nicht mehr gut finde, ist das inkonsistent mit dem, was ich früher gemacht und gedacht habe. Solche Inkonsistenzen sind für viele Menschen unangenehm und lösen eine Art Ängstlichkeit oder Stress aus.

Benjamin Wolf


Benjamin Mario Wolf promovierte am Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie (Motivation) des Psychologischen Instituts der Universität Zürich zum Thema Handlungskrise. Als Postdoktorand erforscht er dort weiterhin die Frage, wie Zweifel entstehen und wie Menschen damit umgehen.

Weil man sich selbst gegenüber unehrlich wird.

Ja, so könnte man es auch sagen. Der Zustand wird in der Psychologie als Dissonanz bezeichnet. Sie entsteht in gewisser Weise aus der Schwierigkeit, sich selbst gegenüber zu erklären, dass man heute anders über etwas denkt als früher. Die klassische Erklärung aus der Psychologie für die unangenehmen Gefühle lautet, dass die meisten Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach konsistenten Gedanken haben. Man könnte sie aber auch anders begründen. Und zwar, dass das Aufgeben von Zielen das Bedürfnis verletzt, in den Dingen einen Sinn zu sehen. Wenn ich etwas für falsch halte, das ich vorher noch für richtig hielt, dann verletzt das mein Bedürfnis, dass alles eine gewisse Struktur hat und das Grosse und Ganze Sinn ergibt. Denn es impliziert ja, dass ich immer falsch liegen könnte.

Ist dies auch ein Grund dafür, wieso Ziele so wichtig für uns sind?

Das hängt damit zusammen, ja. Viele Ziele, die wir langfristig verfolgen, definieren meist auch unser Selbstbild. In unserer Gesellschaft sind das oft Karriere- oder Beziehungsziele, die stark identitätsstiftend sind. Diese lenken nicht nur unser Verhalten und beeinflussen, was wir tagtäglich machen, sondern geben unserem Leben auch Sinn und Struktur. So sind viele Menschen abends dann zufrieden, wenn sie tagsüber etwas gemacht haben, das gut zu ihren langfristigen Zielen passt, und sie das Gefühl haben, vorwärtszukommen oder zumindest keine Rückschläge zu erleiden.

«Ziele definieren unser Selbstbild»

Nehmen wir an, es gäbe ein bestimmtes Karriereziel, das ich bereits seit einer Weile verfolge, aber an dem ich zunehmend zweifle. Und zwar so stark, dass ich nicht mehr weiss, ob ich meine berufliche Laufbahn wie geplant fortsetzen oder mein ursprüngliches Ziel aufgeben soll.

Für diesen Entscheidungskonflikt gibt es in der Psychologie einen Fachausdruck: die Handlungskrise. Sie geht meist mit dem Erleben von Stress, Niedergeschlagenheit oder depressiven Verstimmungen einher. Wenn die Krise länger anhält, kann sie auch die körperliche Gesundheit beeinträchtigen. Man schläft schlechter, ist anfälliger für Krankheiten, bekommt schneller eine Erkältung oder zeigt andere körperliche Symptome. Denn schlussendlich ist Stress auch ein physiologisches Phänomen, das unser Hormonsystem beeinflusst und unserem Körper zusetzt.

Inwiefern?

Als Beispiel fällt mir eine Studie ein, die wir in Zusammenarbeit mit einer physiotherapeutischen Praxis durchgeführt haben. Dort untersuchten wir Personen, die wegen einer Verletzung oder Erkrankung in Physiotherapie waren. Dabei zeigte sich, dass die Patienten, deren Verletzung oder Krankheit keine oder nur geringe Konflikte mit ihren persönlichen Zielen auslöste, einen besseren Genesungsverlauf aufwiesen. Wer hingegen eine starke Handlungskrise erlebte, der erzielte weniger Heilungsfortschritte. Das heisst, die Patienten im Krisenzustand erhielten während der physiotherapeutischen Behandlung weniger Funktionalität im Alltag zurück und konnten ihre Schmerzen weniger stark reduzieren.

«Der Gedanke etwas aufzugeben ist für uns unangenehm oder sogar bedrohlich»

Offenbar fühlten sie sich stark eingeschränkt.

Wir vermuten, dass dies vor allem durch den Stress zustande kam, der von der Handlungskrise ausgelöst wird. Aber das ist nur eine Vermutung und lässt sich natürlich nicht eindeutig nachweisen. Andere Ergebnisse einer kanadischen Forschungsgruppe deuten darauf hin, dass Frauen, die über die Fähigkeit verfügen, im richtigen Moment aufzugeben und nach Alternativen zu suchen, bei Brustkrebserkrankungen einen besseren Heilungsverlauf zeigen und weniger depressive Verstimmungen erleben.

Zielablösungskonflikte verschlechtern also mein Wohlbefinden und können sogar gesundheitliche Auswirkungen haben. Für mich klingt das, als wären Handlungskrisen etwas Schlechtes, das ich um jeden Preis vermeiden muss.

Sie sind schlecht, in dem Sinne, dass es belastend ist, eine Handlungskrise zu erleben. Aber es ist nicht unbedingt schlecht, eine erlebt zu haben. Die Krise ist sozusagen ein notwendiges Übel, damit man es schafft, sich von einem Ziel zu lösen, das mit zu hohen persönlichen Kosten verbunden ist. Zum Beispiel geht sie einher mit einer gewissen Aufmerksamkeit und Offenheit gegenüber Alternativen. Zudem zwingt einen der innere Konflikt dazu, sich ausführlicher mit sich selbst auseinanderzusetzen. So, dass die neu gewählten Ziele dann oftmals besser zu den eigenen Bedürfnissen passen, als jene, die man ursprünglich verfolgt hat.

Gibt es Menschen, die eher dazu neigen, solche Zielablösungskonflikte zu erleben?

Ja, die gibt es. In unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass Menschen sich darin unterscheiden, wie leicht sie in diesen Zustand der Handlungskrise geraten und auch wie schnell sie wieder rausfinden. Dies hängt unter anderem von der Fähigkeit ab, seine eigenen Emotionen zu regulieren. Wenn ich jemand bin, der auf negative Rückmeldungen oder auf Schwierigkeiten leicht mit Stress reagiert und aus diesem negativen Zustand nur schwer herauskommt – also bei dem die Gedanken ständig darum kreisen, was falsch lief und wie man es anders hätte machen können –, dann erlebe ich solche Zielablösungskonflikte eher. Hingegen geraten Menschen, die ihre Emotionen leichter regulieren können und ihre Gedanken bei Schwierigkeiten besser abwenden und nach vorne schauen können, weniger schnell in eine Handlungskrise. Diesen Unterschied zwischen den Menschen finden wir immer wieder.

«Unzufriedenheit führt nicht zwingend dazu, ein Ziel aufzugeben»

Auch wenn es schwerfällt, wieso schaffen wir es trotzdem, uns von unseren Zielen zu lösen? Ich stelle mir vor, man muss einfach genug unzufrieden mit der bestehenden Situation sein.

Unzufriedenheit an sich führt nicht zwingend dazu, ein Ziel oder ein Projekt aufzugeben. Ein möglicher Auslöser sind konkrete Alternativen, die plötzlich auftauchen. Dies ist insbesondere aus der Forschung zu romantischen Beziehungen oder auch zu Kündigungen bekannt. Dann kann es natürlich auch sein, dass man scheitert und das Weitermachen gar nicht mehr möglich ist, weil einem gekündigt wird oder der Partner die Beziehung beendet. Oder man kann das Studium nicht weiterverfolgen, weil man die Prüfung nicht besteht. Hier ist zwar ganz klar, dass man das Ziel nicht mehr erreichen kann, trotzdem ist es nicht einfach, sich innerlich von seinem Wunsch zu lösen.

Und wenn ich nicht zum Aufgeben gezwungen bin, was hilft dabei, selbst zum Entschluss zu kommen, dass ein Ziel es nicht wert ist, weiterverfolgt zu werden? Oder anders gesagt: Wie schaffe ich es, aus einer Handlungskrise herauszufinden?

Der Zustand der Handlungskrise ist ja deshalb so schwierig, weil man sich dabei genau mit dem beschäftigen muss, was für viele so unangenehm und bedrohlich ist: Man überlegt, ob man etwas noch will oder eben nicht. Hierbei liegt die Kunst darin, die positiven und negativen Aspekte der Alternativen zu berücksichtigen und abzuwägen, ohne sich dabei ständig an den Gedanken zu klammern, wie viel man schon in das alte Ziel investiert hat und wie wichtig es einem doch ist. Also, dass man nicht denkt, ich gebe auf, also bin ich schwach. Sondern dass man den Fokus eher darauf richtet, was man sonst machen könnte und wie die Alternativen aussehen könnten. Das gelingt umso besser, je besser ich die Ungewissheit ertragen kann, die entsteht, wenn man etwas Altes aufgibt und etwas Neues anfängt.

Warum ist es überhaupt wichtig, dass wir uns von Zielen lösen können?

Schlussendlich geht es darum, seine Ressourcen möglichst lohnend einzusetzen – ob es sich dabei nun um Aufwand, Zeit oder Geld handelt, das man dafür aufwendet. Viele Leute bleiben viel zu lange an Zielen kleben, die sie am Schluss dann trotzdem aufgeben, erleben davor aber jede Menge Frustration und Stress und schädigen im Extremfall sogar ihre Gesundheit, weil sie langfristig in einer Handlungskrise gefangen sind.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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