Das musst du wissen
- Ein Song, der Migräne vertont – Was nach Kunst klingt, ist eigentlich Forschung – nämlich künstlerische Forschung.
- Die aus dieser Forschung gewonnen Erkenntnisse müssen – ganz anders als bei einem Kunstwerk – alle verstehen können.
- Die junge Disziplin beeinflusst mit ihren neuen Methoden und Perspektiven auch Natur- und Geisteswissenschaftler.
Die Lautstärke schwillt langsam an. Zum Geflecht aus pulsierenden Computerklängen und einem unregelmässigen Ziepen gesellt sich eine helle Frauenstimme. Dumpfe Klopfgeräusche ertönen, und der zarte Sprechgesang verwandelt sich immer mehr in ein flehendes Schreien, bis die Töne leiser werden und schliesslich verstummen.
So fühlt sich Migräne an – oder jedenfalls stellt sie Mariske Broeckmeyer, eine belgische Sängerin und forschende Künstlerin, so dar. Der Song «My dolly hit me» ist ein erstes Ergebnis aus ihrem Forschungsprojekt «Migraine Music», in welchem sie sich mit der Krankheit und der dazu vorhandenen Kunst befasst. Broeckmeyer hat einen ganz persönlichen Bezug zu ihrem Forschungsprojekt: Manchmal plagen sie Migräneanfälle mehrmals pro Woche. Ihre Stimme als Instrument für die Forschung zu nutzen war für sie als Sängerin naheliegend. «Zudem ist sie das einzige, was mir während eines Anfalls bleibt», sagt sie. Mit ihrer Forschung hat Broeckmeyer einen neuen Zugang zur Migräne gefunden. «Ich habe gelernt, dass sie nicht nur schlechte Seiten hat. Durch sie lernt man viel über sich selbst.»
Broeckmeyer hat ihr Forschungsprojekt am vergangenen Wochenende an der zehnten von der Society for Artistic Research (SAR) veranstalteten internationalen Konferenz zur künstlerischen Forschung vorgestellt, zusammen mit 59 anderen Forschenden. Während drei Tagen wurde an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) sachlich vorgetragen, ernsthaft diskutiert und differenziert debattiert.
Lehre braucht Forschung
Gegen die Ernsthaftigkeit hat Giaco Schiesser, Professor für Kultur- und Medientheorien an der ZHdK und Leiter des künstlerischen PhD-Programms Fine Arts, eigentlich nichts einzuwenden. Denn sie zeige, dass die Forschung in den Künsten ernst zu nehmen sei. «Trotzdem dürfte viel mehr Humor, Ironie, Parodie und Spass drin sein», sagt er. Die künstlerische Forschung ist sein Spezialgebiet. Verglichen mit den Natur- und Geisteswissenschaften ist sie mit ihrer knapp 50-jährigen Geschichte ein relativ junger Forschungszweig. In der Schweiz gibt es sie gar erst seit rund fünfzehn Jahren. Ein Grund für ihre Entstehung sei derselbe wie in allen Disziplinen, sagt Schiesser. «Die Ausbildung an Hochschulen basiert auf Lehre und Forschung. Gute Lehre ohne Forschung gibt es nicht.»
Mit der Forschung in der Kunst sind auch internationale Gemeinschaften entstanden, mitsamt Forschungsgruppen und Fachzeitschriften. «Diese sind wichtig zur Sicherung und Entwicklung der Qualität dieses neuen Forschungsfelds», sagt Schiesser. Auch Konferenzen zählt er dazu. So werde permanent über Bewertungskriterien, gute Beispiele und die wissenschaftliche Qualität debattiert.
Auch die Erwartungen an die künstlerische Forschung seien ähnlich wie an die klassischen Wissenschaften, sagt Schiesser: «Die Forschung muss verständlich und reflektiert sein, neue Erfahrungen und Erkenntnisse generieren und innerhalb der Forschungs-Community nachvollziehbar sein.» Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit hingegen, die in den Naturwissenschaften essentielle Kriterien sind, seien in der künstlerischen Forschung nicht anwendbar.
Keine Grenzen bei der Umsetzung
Die an der SAR-Konferenz vorgestellten Forschungsarbeiten machen einen unbefangenen und freien Eindruck. Das überrascht nicht, denn auch der Kunst selbst sind bekanntlich kaum Grenzen gesetzt. «Schon der Begriff ‹künstlerische Forschung› verweist darauf, dass hier ein anderer Typ von Forschung vorliegt, als in den Geistes- und Naturwissenschaften», sagt Schiesser. So sei einer der wesentlichen Unterschiede die Vielfalt der Medien und Materialien. Für die Dokumentation, Präsentation und Verbreitung der Ergebnisse seien alle Formen denkbar: «Ob das Projekt sich als Buch, als Lied, als Skulptur oder als Performance manifestiert – all dies ist denkbar», sagt Schiesser. So würden in der künstlerischen Forschung neben dem Sehsinn und dem Intellekt auch der Hör- oder Tastsinn angesprochen.
Performance anstatt Text als Ausdrucksweise ihrer Forschung wählt auch die forschende Künstlerin Julia Weber. Die Schweizerin beschäftigt sich zurzeit mit dem «Herumlungern» von drei unterschiedlichen sozialen Gruppen – Sozialhilfebezügern, Strassenhändlern und Ravern – im öffentlichen und halböffentlichen Raum in Berlin und Zürich. Weber hinterfragt das negativ gefärbte Alltagsverständnis des «Herumlungerns» und möchte mehr erfahren über die Beweggründe von Menschen, die sich auf öffentlichen Plätzen sammeln und miteinander Zeit verbringen. Im Rahmen ihrer Feldforschung verbrachte Weber unter anderem drei Wochen mit deutschen Arbeitslosen, die sich fast täglich an einem selbst gebauten Tisch in einem Park im Berliner Quartier Kreuzberg treffen. Weber hat herausgefunden, «dass diese Menschen nicht ziel- und planlos herumsitzen. Sie sind produktiv, kreativ und gut organisiert.» Die neu gewonnenen Erkenntnisse sollen im Sommer 2019 in eine Performance einfliessen, in der die Künstlerin selbst in die Rolle einer Herumlungernden schlüpfen will. Die Performance sieht Weber auch als Forschungswerkzeug, mit dessen Hilfe sie sich besser mit der städtischen Bevölkerung austauschen kann; etwa über alternative Ideen gemeinschaftlichen Zusammenlebens an öffentlichen Orten.
Auf Augenhöhe mit anderen Wissenschaften
Doch worin unterscheidet sich eine Forschungs-Performance von einem Kunstwerk? Giaco Schiesser macht ein Beispiel: «Kunst ist, wenn ich zum Beispiel eine Skulptur in einer Galerie ausstelle. Deren Interpretation ist ganz den Besuchern überlassen.» Ein Kunstwerk sei also auf Vieldeutigkeit angelegt. Die künstlerische Forschung hingegen ziele auf die Nachvollziehbarkeit der gewonnen Einsichten, Erfahrungen und Erkenntnisse. Deshalb müsse hier der Forschungsprozess dokumentiert, reflektiert und für andere zugänglich gemacht werden. Das Ergebnis müsse dabei nicht zwingend etwas Fertiges sein, sagt Schiesser. «Genauso wenig müssen die daraus gewonnenen Erkenntnisse direkt für die Gesellschaft relevant sein». Ein Nutzen könne sich auch erst mit der Zeit ergeben. «Das ist ja in den Naturwissenschaften auch nicht anders», sagt er und nennt die Relativitätstheorie, bei der sich deren gesellschaftliche Bedeutung auch erst nach und nach gezeigt hat.
Die neue Herangehensweise von Kunstforschenden hat mittlerweile auch das Interesse anderer Wissenschaftstraditionen geweckt. Etwa die der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Laut Schiesser haben dort Forschende zwar oft eine Intuition, dass in ihrem Forschungsfeld etwas Neues erforscht werden könnte, wüssten aber nicht, wie sie den Erkenntnisgegenstand beschreiben könnten. «Dann haben sie ein Interesse daran, unsere Forschungsmethoden kennenzulernen, mit den ihren zu mischen und auszuprobieren», sagt Schiesser.
Inzwischen gebe es immer mehr Kooperationen und Forschungsgruppen, in denen Forschende aus allen Disziplinen zusammenarbeiten, sagt er. «Und das auf Augenhöhe, mit dem Ziel, die unterschiedlichen Zugangsweisen für neue Erkenntnisse zusammen zu bringen.» Ein Beispiel für eine solche Kooperation ist ein Forschungsprojekt der ZHdK, in dem ein Videokünstler zusammen mit naturwissenschaftlich Forschenden mit Fruchtfliegen arbeitete. Der forschende Künstler habe Videoschnipsel gesammelt, die die Naturwissenschaftler entsorgt hätten, da er in ihnen ebenfalls einen Nutzen für die Wissenschaft gesehen habe, sagt Schiesser. «Das animierte die ganze Forschergruppe, das Material mit anderen Augen zu sehen.»