Silke Margherita Redolfi, Sie haben die Praxis aufgearbeitet, nach der Schweizerinnen bis 1952 bei Heirat mit einem Ausländer ihr Bürgerrecht verloren. Warum gerade dieses Thema?

Die sogenannte Ausheirat ist ein dunkler Fleck in der Geschichte der Schweiz, und wurde bisher kaum wahrgenommen. Ich wollte mit meiner Studie auch den Betroffenen und ihren Familien eine Stimme geben.

Silke Margherita Redolfi

Silke Margherita Redolfi ist Historikerin, Leiterin des Frauenkulturarchivs Graubünden und freischaffende Archivarin. 2019 wurde im Chronos-Verlag ihre Dissertation „Die verlorenen Töchter. Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat eines Ausländers“ veröffentlicht.

Dass Frauen damals ihr Bürgerrecht so schnell verlieren konnten, ist heute kaum mehr bekannt. Haben Sie das bei Ihrer Arbeit auch so wahrgenommen?

Absolut. Selbst bei Betroffenen ist das erlittene Leid noch immer ein Tabu – die Familien wollten nach einer Wiedereinbürgerung oder der Rückkehr nach einer Ausweisung aus der Schweiz das Erlebte oft schnell vergessen. Durch die historische Unkenntnis war das Thema in der Gesellschaft lange Zeit nicht präsent.

Was war die Begründung der offiziellen Schweiz für dieses Vorgehen?

Zunächst ist zu sagen, dass die Ausbürgerung von Frauen bei der Heirat eines Ausländers ein Schweizer Gewohnheitsrecht war. Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit in binationalen Ehen wurde in ganz Europa praktiziert. Es war ein «Geben und Nehmen»: Ausländerinnen wurden mit der Heirat Schweizerinnen, Schweizerinnen verloren den roten Pass. Im Zweiten Weltkrieg stellte der Bundesrat die sogenannte Heiratsregel dann aber vermehrt in den Dienst der Landesverteidigung und der Abwehr von Fremden und Flüchtlingen. Sie wurde immer mehr als Strafe gegen die schon fast als Landesverräterinnen gebrandmarkten Frauen aufgefasst. Man wollte möglichst verhindern, dass Ausländer, insbesondere Juden, Zugang zur Schweiz erhielten.

Frauen über das Eherecht zu disziplinieren, ist eine gängige staatliche Taktik.

Wenn Sie daran denken, dass Ehefrauen mit der Heirat in ein enges Korsett gedrängt wurden und vom Namen bis zum Bürgerrecht und der Erlaubnis zur Berufstätigkeit inklusive Wohnort vom Mann abhängig waren, dann kann man von einem grossen Zwang sprechen. Frauen hatten als Bürgerinnen in der Schweiz lange Zeit überhaupt keinen Status. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich dies zu ändern. Ich würde daher weniger von einer Disziplinierung als von einer Funktionserfüllung der Frauen als Mütter und Hausfrauen sprechen. Dabei ist klar, dass die Schweizerinnen mit ihrer Arbeitskraft und Berufstätigkeit genauso viel zum Aufschwung der Schweiz beitrugen wie die Männer. Dies wurde und wird aber kaum wahrgenommen.

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Sie haben viel über die Schicksale betroffener Frauen erfahren. Was haben die Betroffenen nach dem Entzug des Bürgerrechts erlebt?

Die Erlebnisse und Erfahrungen sind individuell und je nach Situation anders gelagert. Eine im Ausland lebende frühere Schweizer Jüdin hat um ihr Leben gekämpft und konnte nicht auf die Hilfe der Schweiz zählen; die Behörden weigerten sich standhaft, diesen Personen, immerhin frühere Mitbürgerinnen, einen Rettungsanker in Form des Schweizer Bürgerrechts zuzuwerfen. Demgegenüber verlor eine Frau in der Schweiz zum Beispiel ihre Stelle, weil sie in einem Beruf arbeitete, der das Schweizer Bürgerrecht voraussetzte, wie Anwältin, Lehrerin oder Beamtin. Dann gibt es eine andere Gruppe von Frauen, die aus Armutsgründen – als nunmehr Ausländerinnen mit Kindern – an die Grenze gestellt wurden oder in psychiatrischen Anstalten im Ausland verschwanden. Das sind die tragischen Schicksale, die uns heute unverständlich sind und sprachlos machen. Oft haben Gemeinden solche Verbannungen aus der Schweiz – auch mitten im Krieg – vollzogen, weil sie Angst vor Armenkosten hatten.

Weiss man etwas über die Grössenordnung? Wie viele Frauen waren insgesamt betroffen?

Zwischen 1885 und 1952 verloren rund 85 200 Schweizerinnen ihr Bürgerrecht, weil sie einen ausländischen Mann heirateten.

Gab es Widerstand gegen diese ungerechte Rechtsprechung?

Ja, besonders als die «Heiratsregel» im Zweiten Weltkrieg verschärft wurde, setzten sich Juristinnen, Staatsrechtler, Politiker und auch die Frauenverbände, die seit dem Ersten Weltkrieg für Verbesserungen kämpften, für Reformen ein. Doch erst das grosse Leid, das nach dem Krieg sichtbar wurde, und die Erfahrungen einer breiten Bevölkerung, haben eine Änderung möglich gemacht.

Mit welcher Begründung haben Schweizer Männer, die eine Ausländerin heirateten, nicht ebenso ihr Bürgerrecht verloren?

Das Schweizer Bürgerrecht war, wie Sie wissen, patriarchal orientiert. Der Mann war das Haupt der Familie und gab damit auch das Bürgerrecht an die Ehefrau und die Kinder weiter. Die Staatsangehörigkeit des Schweizer Mannes war im Prinzip unantastbar und wurde ihm im modernen Bundesstaat nur in Ausnahmefällen entzogen, zum Beispiel bei Landesverrat.

Inwiefern waren Schweizerinnen, die einen Ausländer heirateten, auch nach 1952 im Bürgerrecht noch benachteiligt?

1952 kam es nicht zur grossen Revolution. Aber ab 1953 konnten Schweizerinnen, die Ausländer heirateten, durch das sogenannte Optionsrecht erklären, Schweizerinnen bleiben zu wollen. Das war für die damalige Zeit eine grosse Errungenschaft und darf als Verdienst der Frauenverbände in die Geschichte eingehen. Zu erwähnen ist auch, dass es 1953 eine beachtliche «Rückbürgerungsaktion» gab, bei der über 32 000 Frauen ihren Schweizer Pass zurückerhielten. Dennoch wurden damals nicht alle wieder eingebürgert. Wer als «unwürdig» erschien, und das waren im Kalten Krieg zum Beispiel die Kommunistinnen, oder wer als moralisch untragbar für die Gemeinden galt, wurde abgelehnt. Der Staat statuierte hier ein Exempel. Wiederum auf dem Buckel der Frauen. Die unheilvolle Verknüpfung von staatlichem Zweckdenken und Bürgerrecht der Frauen setzte sich erneut durch.

Gibt es eine offizielle Aufarbeitung oder gar Wiedergutmachung vonseiten des Bundes oder ist Ihre Arbeit zum Thema bislang der einzige Beitrag?

Es ist nun unbedingt wichtig, dass weitere Studien verfasst werden können, denn die Forschung zum Thema steht noch ganz am Anfang. Ich habe mit meiner Dissertation bewusst auf die Folgen der Praxis gezielt, damit die Auswirkungen erhellt werden. Ich wünsche mir eine offizielle Debatte darüber und natürlich auch eine offizielle Geste zugunsten der Betroffenen. Aber wie wir wissen, haben es Frauenanliegen in unserer Gesellschaft noch immer schwer. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass nun etwas in Gang kommt.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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