Es ist der 30. April 1989, Mittagszeit. Es nieselt leicht in Hundwil in Appenzell Ausserrhoden, als die Vernunft über die Emotion siegt. Über Widerstand, Häme und Feindseligkeiten. «Ihr habt der Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene zugestimmt», verkündet der damalige Ausserrhoder Landammann Hans Ueli Hohl an jenem historischen Tag – und erntet dafür Pfiffe, Johlen und Jubelschreie. Nicht wenige Ausserrhoder Männer verlassen Sekunden nach der Verkündigung den Ring. Die Frauen feiern. Unter ihnen ist Elisabeth Pletscher. Jahrzehntelang hat sie für diesen Moment gekämpft. Jetzt ist sie bereits 80 Jahr alt. Und hat gewonnen.

Die Schweiz war eines der letzten europäischen Länder, das auch der zweiten Hälfte seiner Bevölkerung die vollen Bürgerrechte zugestand. Das war 1971. Bis zur Umsetzung in allen Kantonen dauerte es aber 20 Jahre. «Es gibt Dinge, die brauchen Zeit», sagte Elisabeth Pletscher einst in diesem Zusammenhang. Dazu gehören Volksabstimmungen. Denn: Gleichzeitig war die Schweiz das erste Land, in dem das Frauenstimm- und -wahlrecht durch Volksabstimmungen beschlossen wurden. Also durch Männer.

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«Dass die Männer richtig darüber abstimmen, dafür haben wir Frauen natürlich schon gesorgt», erinnert sich die heute 70-jährige Aline Auer, selbst Kämpferin für das Frauenstimmrecht und langjährige Weggefährtin von Elisabeth Pletscher, im Februar 2020 in ihrem Haus in Teufen, Appenzell Ausserrhoden. Ob auf öffentlichen Kundgebungen, Podiumsdiskussionen oder schlicht zu Hause an Gesprächen beim Küchentisch: «Nur durch unermüdliche und resolute Macherinnen wie unsere Elisabeth kam es an der Landsgemeinde in Hundwil 1989 zu diesem erhabenen Jahrhundertentscheid. Ohne ihr Engagement hätte das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene vielleicht auch bei uns nur per Bundesentscheid durchgesetzt werden können, so wie das in Appenzell Innerrhoden ein Jahr später passieren musste.»

Luftaufnahme der Landsgemeinde Hundwil von 1949Werner Friedli – ETH-Bibliothek

Landsgemeinde in Hundwil vom 24. April 1949.

Dass die Appenzeller Frauen bis Anfang der 90er Jahre nicht mitreden durften, lag zu grossen Teilen an der Institution der Landsgemeinde. Sie hat 500 Jahre Tradition, ist verfassungsmässig festgeschrieben und war damals die höchste Instanz im Kanton: Unter freiem Himmel und begleitet von feierlicher Zeremonie versammelten sich alle stimmfähigen Einwohner, um über Sachgeschäfte abzustimmen und Behördenmitglieder zu wählen. Und das per Handerheben. Wie traditionsbewusst diese Versammlungen sind, zeigt beispielsweise, dass Männer in Appenzell Innerrhoden auch heute noch neben der Stimmkarte aus Papier auch das sogenannte «Seitengewehr» als Stimmrechtsausweis vorzeigen können – früher tatsächlich ein Gewehr, heute auch ein ererbter Degen, Säbel oder ein Bajonett.

Linolschnitt "Männer an der Landsgemeinde"Otto Schmid - Archiv der Kantonsschule Trogen

Männer an der Landsgemeinde. Linolschnitt (1930) von Otto Schmid, ehemaliger Zeichenlehrer von Elisabeth Pletscher.

Und genau dieses Brauchtum sorgte dafür, dass sich viele Ausserrhoder und Ausserrhoderinnen so lange und so intensiv gegen das Frauenstimmrecht wehrten. Denn sie fürchteten, dass die Landsgemeinde abgeschafft würde, wenn auch Frauen teilnehmen dürften. Schliesslich habe es im Hundwiler Ring, wo die Versammlung in ungeraden Jahren stattfand, und in Trogen, Ort der geraden Jahre, nicht für alle Platz.

«Weiber sollen in Versammlungen schweigen»

«Wer es wagte, sich wie Elisabeth Pletscher öffentlich für das Frauenstimmrecht auszusprechen, musste mit krassen Anfeindungen rechnen», sagt Auer. Doch Pletscher ging unbeirrt mutig voran. Als eine von wenigen Frauen positionierte sie sich früh öffentlich als Befürworterin des Frauenstimmrechts. Bereits ab 1959 debattierte sie auf Podiumsdiskussionen, ab 1983 wurde sie als Mitgründerin der «Interessensgemeinschaft für politische Gleichberechtigung der Frauen im Kanton Appenzell Ausserrhoden» politisch aktiv.

Für ein Werbeplakat prägte sie zu Lebzeiten den Satz: «Ohne Männer geht viel, ohne Frauen gar nichts.» Dennoch bezeichnete sich Pletscher nie als Feministin. Den Satz hätte sie, wie sie zu Lebzeiten sagte, am liebsten durch einen weiteren Satz ergänzt: «Am besten geht es gemeinsam in echter, gleichberechtigter Partnerschaft.»

Diese Anfeindungen gegen sie dauerten über Jahrzehnte an, auch nachdem das Frauenstimmrecht längst Tatsache war. Selbst 1998 bekam Pletscher noch einen Briefumschlag, adressiert an: «die Totengräberin Frau humoris causa, h.c.». Das war eine spöttische Anlehnung darauf, dass Pletscher im selben Jahr von der Universität St. Gallen die Ehrendoktorwürde Dr. h. c. (honoris causa) verliehen wurde. «Als Emanze und Männerhasserin sind Sie persönlich wesentlich am Tod unserer ehrwürdigen Landsgemeinde schuld – welch edles Lebenswerk, schämen Sie sich!», schrieb der anonyme Absender. Denn 1997 wurde die Landsgemeinde in Appenzell Ausserrhoden tatsächlich abgeschafft. Per Urnenabstimmung.

EhrendoktorurkundeUniversität St. Gallen – Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Urkunde zum Ehrendoktor, verliehen von der Universität St. Gallen, 1998.

Einige Gegner zitierten gerne aus der Bibel, konkret aus dem ersten Korintherbrief von Paulus: «Die Weiber sollen in Versammlungen schweigen», stand in den Schmähbriefen.

Elisabeth Pletscher jedoch hat nie geschwiegen. 1921 besucht sie als zweite Appenzellerin überhaupt die Kantonsschule Trogen. Bereits damals, als 12-Jährige, beschäftigt sie sich mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ausschlaggebend ist ein Vortrag von Rosa Neuenschwander, eine Berner Pionierin im Bereich der Berufsberatung und Berufsausbildung in der Schweiz. «Ich habe da, wie meine Klassenkameradinnen auch, zum ersten Mal vom Frauenstimmrecht gehört», erinnert sich Elisabeth Pletscher in ihrer Biografie. «Schon zu jener Zeit waren auf dem politischen Parkett die ersten Motionen zum Frauenstimmrecht eingereicht worden, aber bis ins Appenzellerland waren solche Neuerungen noch nicht gedrungen. Der Vortrag von Rosa Neuenschwander hat mich und auch die anderen Mädchen sehr beeindruckt. Das mit dem Frauenstimmrecht fanden wir toll.»

Internationaler Einsatz für Laborantinnen

Nach ihrer Matura hätte Pletscher gerne Medizin studiert. Ihre Mutter – eine Witwe mit zwei Töchtern – konnte ihr diesen Wunsch aus finanziellen Gründen jedoch nicht erfüllen. Davon unbeirrt ging Pletscher nach Herisau und fragte nach einem Stipendium. Dort teilte ihr der Verantwortliche des Kantons mit, dass Stipendien nur für Männer vergeben werden. «Auch davon liess sich Elisabeth nicht beirren, sie war darüber nie verbittert», sagt Auer. «Verbitterung war grundsätzlich etwas, was sie nie kannte.» Umso bezeichnender ist, was Pletscher nach dieser Hiobsbotschaft aus Herisau machte: «Sie fand einen Weg um diese Hürde. Da sie nicht Ärztin werden konnte, wurde sie Laborantin.» So besuchte sie die Laborantinnenschule im Engeried-Spital in Bern. Drei Jahre später wurde die erst 22-jährige Elisabeth Pletscher Cheflaborantin der Frauenklinik des Universitätsspitals Zürich. Und 1931 Vorstandsmitglied und von 1956 bis 1966 Präsidentin des Schweizerischen Verbands der Medizinischen Laborantinnen, wo sie sich für die Verbesserung der beruflichen Grundbildung und bessere Löhne für Schweizer Laborantinnen einsetzte.

Durch dieses unermüdliche Engagement entstand 1954 ein Internationaler Laborantinnen-Verband, der noch heute als International Federation of Biomedical Laboratory Science (IFBLS) existiert und seit 2004 den Elisabeth Pletscher Award an Personen verleiht, die durch ausserordentliche Leistungen in der biomedizinischen Laborwissenschaft herausstechen.

Das war eine steile berufliche Karriere für eine Frau in der damaligen Zeit, die ihr beim Kampf für das Frauenstimmrecht viel Rückenwind verlieh.

Schäfchen für Halabdscha

Elisabeth Pletschers Engagement beschränkte sich jedoch nicht nur auf berufliche und politische Angelegenheiten. Auch für soziale und humanitäre Anliegen setzte sie sich Zeit ihres Lebens ein.

Elisabeth Pletscher im Jahr 1995Hans Aeschlimann – Kantonsschule Trogen, Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden

Elisabeth Pletscher 1995.

Während des Zweiten Weltkriegs – durch die Mobilmachung stand das Universitätsspital Zürich und damit auch Cheflaborantin Pletscher unter militärischem Befehl – meldete sie sich für den Militärischen Frauendienst, wo sie als Laborantin in Militärsanitätsanstalten arbeitete. 1945 absolvierte sie eine Auslandsmission des Roten Kreuzes im italienischen Meran, wo sie Verletzte aus Kriegsgebieten und Überlebende des Holocausts behandelte.

In den 70er Jahren gründete sie das Mädchenkonvikt – eine Art Studienhaus oder Stift – der Kantonsschule Trogen. Und als sie 1988 vom Giftgasanschlag der irakischen Luftwaffe auf Halabdscha, eine Stadt in der Autonomen Region Kurdistan, hörte, strickte sie Schäfchen und verkaufte diese, um Spendengelder für den Wiederaufbau eines Dorfes in dieser Region zusammenzubringen. «Hunderte bis tausende Franken kamen dadurch zusammen», sagt Auer.

«Elisabeth hätte nicht am Frauenstreik teilgenommen»

Am 11. August 2003, wenige Monate vor ihrem 95. Geburtstag, verstarb Elisabeth Pletscher an den Folgen eines Verkehrsunfalls: Ende Juli wurde sie auf ihrem Nachhauseweg in der Nähe ihres Hauses von einem Auto erfasst, dessen Lenkerin unter Drogeneinfluss stand.

Fels als Grabstein ohne NamensnennungWikimedia/Archive Aurora

Friedhof Trogen: Gemeinschafts­grab ohne Namensnennung mit der Asche von Elisabeth Pletscher

Was aber würde Elisabeth Pletscher zur heuten Frauenbewegung sagen? «Ich denke nicht, dass sie am Frauenstreik 2019 teilgenommen hätte», sagt Aline Auer nach langem Überlegen. «Sie war eine aktive Person. Streik oder ‹Böckele› wären für sie die falschen Mittel, um sein Recht zu erkämpfen.» Auch für eine Quotenregelung setze sie sich nie ein: «Für mich gilt nur die Qualität, nicht die Quantität. Ich setzte mich dafür ein, dass Frauen in allen Gremien in möglichst angemessener Zahl vertreten sind. […] Die Zusammenarbeit beider Geschlechter ist immer erfolgreicher und fruchtbarer, wenn nicht nur eine Frau mit lauter Männern oder ein Mann allein mit lauter Frauen ist», wird sie in der Biografie zitiert. Ihr Weggefährtin Auer ergänzt: «Ihr Kredo war stets ‹Frausein allein reicht nicht, um Politik zu machen›».

Buchtipp: «Es gibt Dinge, die brauchen Zeit»

Pioniergeist Ostschweiz

Menschen, welche das Leben in der Schweiz und manchmal sogar im Aus­land veränderten: Solche Pio­niere gab und gibt es auch in der Ostschweiz. higgs porträtiert bekannte aber auch unbekannte Persönlich­­keiten, die Pionier­leistungen erbrachten. Wir stöbern in den Archiven, reden mit Nachkommen oder gleich mit den Pionieren und Pionierinnen selber. Diese higgs-Serie wird am Ende zu einem attraktiven Coffee-Table-Buch zusammengefasst – ganz nach dem Vorbild des Vorgänger­projektes «Zürcher Pio­­niergeist».
 
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