Das musst du wissen

  • Erinnerungen werden von jenen Nervenzellen abgespeichert, welche beim Verarbeiten des Erlebnisses beteiligt waren.
  • Allerdings brauchen diese Nervenzellen die Ruhe der Nacht, um die Erinnerungen über Verknüpfungen aufzubauen.
  • Vieles wird nur unbewusst wahrgenommen und gespeichert – beeinflusst unsere Entscheidungen aber messbar.
Den Text vorlesen lassen:

Frau Henke, Sie erforschen die bewussten und unbewussten Regionen unseres Gedächtnisses. Was ist Ihre früheste Erinnerung?
Die stammt tatsächlich aus einer Zeit, in der man als Mensch eigentlich einen frühkindlichen Gedächtnisverlust hat. Deshalb können sich die meisten an die ersten vier Jahre nicht erinnern. Trotzdem habe ich eine bewusste Erinnerung aus dem ersten Lebensjahr. Ich erinnere mich, wie mich meine Eltern im Zoo hochgehoben haben zur Schnauze einer Giraffe. Da hatte ich unglaublich Angst. Diesen Moment weiss ich noch.

Katharina Henke

Katharina Henke ist Leiterin der Forschungsgruppe ‘Cognitive Neuroscience of Memory and Consciousness’ am Institut für Psychologie der Universität Bern. Sie ist dort zudem seit 2005 Professorin für experimentelle Psychologie und Neuropsychologie. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Unterbewusstsein und den Wegen, diesem auf die Spur zu kommen. Sie erforscht unbewusste Erinnerungsprozesse, Gedächtnis und Schlaf.

Wie entstehen Erinnerungen in unserem Gehirn überhaupt?
Erinnerungen werden in Nervenzellen abgespeichert und zwischen Nervenzellen. Wenn man etwas erlebt, dann sind im Neokortex Nervenzellen aktiv. Diese sorgen dafür, dass man überhaupt merkt, dass man etwas erlebt, dass man etwas riecht, etwas sieht, etwas hört. Diese Nervenzellen verarbeiten also das Erlebnis.

Und wie wird aus dem Erlebnis dann Erlebtes?
Es gibt eine Hirnstruktur, die extrem schnell aufnehmen und abspeichern kann, das ist der Hippocampus. Der Hippocampus bekommt vom Neokortex die ganzen Informationen, denn die Nervenzellen im Neokortex sind mit Verarbeiten beschäftigt und können gar nicht so schnell abspeichern. Im Hippocampus werden Information als erstes zwischengelagert. Im Tiefschlaf, also in der Nacht, spielt der Hippocampus die Informationen zurück an den Neokortex, an jene Nerven-Netzwerke, die beim Erleben beteiligt waren. Der Hippocampus zwingt diesen Zellen eine Reaktivierung auf, also eine Aktivierung wie zum Zeitpunkt des Erlebens. So können auch die neokortikalen Neuronen sich langsam miteinander verschalten. Das geht manchmal mehrere Nächte so, bis das neokortikale Netzwerk dicht und fest genug ist, um eine Erinnerung selbständig abrufen zu können, ohne dass der Hippocampus hilft. Dann werden die hippocampalen Zellen wieder frei, etwas Neues zu lernen.

Am Ende liegt die Erinnerung also in den gleichen Nervenzellen, die die Eindrücke ursprünglich «erlebt» haben?
Genau. Zellverbände, die ein Erlebnis verarbeitet haben, vernetzten sich besser, sie bauen Verknüpfungen. Der Bau dauert Stunden bis mehrere Tage. Ist fertig gebaut, haben wir zwischen diesen Nervenzellen mehr Kommunikationskanäle. Je besser die Nervenzellen verdrahtet sind, desto besser kann ich mich auch an das Erlebnis zurückerinnern.

Was für Zellverbände sind das genau, in denen die Erinnerung gespeichert wird?
Das Gedächtnis besteht eben aus jenen Nervenzellen, die bei der initialen Verarbeitung beteiligt sind. Also zum Beispiel im akustischen Kortex, im Riechkortex, im Sehkortex, auch Gefühle sind bei jedem Erleben dabei, auch diese Neuronen sind in dem Netzwerk drin. Bei jedem einzelnen Erlebnis erstreckt sich ein aktives Netzwerk über das ganze Hirn. Das Netzwerk verändert sich, verschiedene Neuronen sind von Moment zu Moment aktiv, denn Neuronen sind spezialisiert. Wenn ich ein Musikstück anhöre, habe ich im akustischen Kortex viel mehr Neuronen, die das aufnehmen und ihre Informationen an den Hippocampus abgeben. Die Neuronen im Hippocampus zusammen mit den Neuronen vom Neokortex bilden das gesamte Netzwerk, die Gedächtnisspur.

Kann man sich die Gedächtnisspuren also vorstellen wie die Zahlenbilder, die wir als Kinder verbunden haben – einfach 3D und sich wandelnd?
Genau so kann man sich das vorstellen. Die Informationsverarbeitung ist aber parallel, denn wir sehen, schmecken, hören gleichzeitig. Man bräuchte also mehrere Einsen.

Haben einzelne Nervenzellen Positionen in verschiedenen 3D-Bildern?
Beim bewussten Lernen hat jede Nervenzelle ihren Platz in verschiedenen Gedächtnisspuren, deshalb verwechseln wir Erinnerungen – und vergessen manche.

Wird etwas einfacher abzuspeichern, wenn man es schon mal erlebt hat?
Ja tatsächlich. Wenn man schon von etwas eine Ahnung hat, ein Schema, dann fällt es viel leichter, dazu detailliertere Informationen zu lernen, und auch der Speichermechanismus ist viel schneller. Die Langzeitspeicherung von neuem Vokabular einer bereits gelernten Sprache dauert dann vielleicht nicht 24 Stunden, sondern nur drei Stunden.

«Die unbewusst gemachten Erfahrungen gehen im Gegensatz zu bewusst gemachten nicht vergessen, im Gegenteil: Die werden immer stärker verankert und beeinflussen uns immer stärker.»

Hängt schlechtes Erinnerungsvermögen mit einer armen Umwelt zusammen?
Werden Mäuse in einem langweiligen Käfig gehalten, wo es keine Spielzeuge gibt, kein Laufrad, nichts Buntes, dann haben sie weniger Hippocampus-Neuronen. Das ist auch bei Menschen so: Wenn man Neues immer wieder sucht, kann man dem natürlichen Abbau der Gedächtnisfunktion entgegenwirken.

Könnten wir uns unter Stress schlechter erinnern?
Ja, weil bei Stress Cortisol ausgeschüttet wird, und das hemmt den Hippocampus in seinen Tätigkeiten. Deshalb kann an einer Prüfung eine Gedächtnisblockade einsetzen. Aber dieser Stress-Effekt betrifft auch die Festigung von Sachen, die man gelernt oder erlebt hat.

Science-Check ✓

Studie: Larger capacity for unconscious versus conscious episodic memoryKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsEs handelt sich um ein Laborexperiment. Die Probanden wussten, dass sie Filme sehen würden, die für sie bewusst nicht wahrnehmbar sind. Die Probandengruppe ist relativ gross und es handelt sich um neun Einzelexperimente mit Kontrollkonditionen, zwei davon schlossen die Messung der Hirnaktivierung mit ein. Die Studienergebnisse sind relativ zuverlässig, weil die Ergebnisse mehrmals in neuen Experimenten reproduziert wurden. Allerdings handelt es sich um die erste Studie in dem Bereich, die Resultate müssen durch weitere Forschung bestätigt werden.Mehr Infos zu dieser Studie...

Sie haben gerade eine Studie publiziert, wo es um das unbewusst Wahrgenommene geht, das wir unbewusst abspeichern und in unsere Entscheide unbewusst einfliessen lassen. Ist pro Erlebnis in unserem Gedächtnis also potenziell noch viel mehr Information vorhanden?
Das ist so. Zum Beispiel an einem Bewerbungsgespräch konzentrieren Sie sich vielleicht auf das Verbale. Und Sie merken nicht, dass Sie unbewusst auch nonverbale Ebenen wahrnehmen. Sie gehen aus dem Bewerbungsgespräch raus und haben das Gefühl, das passt. Dann gehen Sie ins Bett und schlafen drüber. Am nächsten Morgen wachen Sie auf und merken: Eigentlich ist da einiges, was Ihnen nicht entspricht. Das nonverbale war eher unsympathisch. Die Mitarbeiter haben einen gelangweilten Eindruck gemacht. Am Tag vorher war Ihnen das nicht gewahr, weil erst während des Schlafs Gedächtnisinhalte gefestigt werden, und zwar vor allem die schwachen. Das sind die, die halbbewusst sind, die peripher aufgenommen werden.

Man sollte bei wichtigen Entscheiden also immer eine Nacht darüber schlafen?
Genau, denn einiges kann erst durch den Tiefschlaf bewusstseinsfähig werden. Und vieles wird auch am nächsten Tag nicht bewusstseinsfähig, sondern bleibt vorbewusst oder sogar unbewusst. Im Verhalten beeinflusst es einen trotzdem. Man nimmt den Job an, hat aber ein mulmiges Gefühl.

«Unbewusste Argumente können sehr wichtig sein. Deshalb gibt man den Ratschlag in der Psychologie, bei komplexen Entscheiden auf das Bauchgefühl zu hören, wo die unbewussten Argumente einfliessen können.»

Lässt sich das unbewusst Abgespeicherte ins Bewusstsein ziehen?
Erinnerungen sind nicht entweder bewusst oder im Unterbewusstsein. Es gibt auch Grauzonen. Das merkt man, wenn man sich an etwas erinnern will: In einen Moment kann man es, im anderen wieder nicht. Einiges ist auch komplett im dunklen Bereich und man kann dieses Wissen nur über Hypnose hochholen. Erinnerung ist ein dynamischer Prozess. Je nachdem, wie wichtig etwas für einen ist, befindet es sich eher im sichtbaren Bereich. Aber es gibt eben auch Verdrängungsmechanismen. Dass man sich gar nicht erinnern will und Erinnerungen dann in den schwarzen Bereich runterdrückt. Man kann Gedächtnisstrukturen, in denen die Informationen gespeichert sind, unterdrücken in ihrer Arbeit, über den Willen, der sitzt hier (fasst sich an die Stirn). Da ist der Frontallappen stark beteiligt. Dann erinnere ich mich vielleicht nicht an einen Arzttermin, der mir unangenehm ist. Ich habe ihn vergessen, aber es ist ein motiviertes Vergessen.

Die Existenz des Unterbewusstseins ist umstritten. Lässt sich der Einfluss davon auf unsere Entscheidungen wissenschaftlich beweisen?
Genau damit beschäftige ich mich. Wie komme ich als Forscherin an das Unterbewusstsein?

Und, wie geht das?
Mittels Experimenten. In der letzten Studie haben wir den Probanden Filme gezeigt, deren einzelne Frames nur 17 Millisekunden lang gezeigt und zudem in einer davor und danach eingeblendeten Pixel-Maske eingebettet wurden. Die Pixel-Masken verhindern die bewusste Wahrnehmung der einzelnen Film-Bilder – man nimmt einfach einen flackernden Bildschirm wahr. Dann sagten wir den Probanden: «Sie müssen sich jetzt an etwas erinnern, woran Sie sich nicht bewusst erinnern können. Verlassen Sie sich auf Ihr Bauchgefühl, entscheiden Sie intuitiv.» Bei der jüngsten Studie waren Probanden über intuitive Entscheidungen fähig, Informationen aus den Videoclips wiederzugeben, obwohl sie keinerlei bewusste Erinnerung an die Clips hatten.

Das ist erstaunlich.
Das finde ich auch. Im Alltag spielt Intuition bei vielen Menschen aber eine Rolle. Vor allem bei komplexen Fragen entscheiden die meisten Leute aus dem Bauch heraus. Zum Beispiel, wenn es um die Studienwahl geht oder den Lebenspartner. Das sind Entscheide, in die 25 oder noch mehr Argumente einfliessen. Die vielen Argumente können wir gar nicht im Bewusstsein halten. Im Bewusstsein können wir nur etwa fünf bis sieben Argumente gegeneinander gewichten und abwägen.

«Wenn alles Wissen immer bewusstseinsfähig abgespeichert würde, hätten wir bald keinen Platz mehr im Gehirn zum neu Lernen.»

Könnte man sich nicht einfach alle Argumente aufschreiben?
Das Problem ist: Viele Argumente befinden sich im Unterbewusstsein, denn die Informationen dafür sind unbewusst aufgenommen und gespeichert worden. Die unbewusst gemachten Erfahrungen gehen im Gegensatz zu bewusst gemachten jedoch nicht vergessen, im Gegenteil: Die werden immer stärker verankert und beeinflussen uns immer stärker. Denn beim unbewussten Lernen sind so wenig Neuronen involviert, die die Erinnerung codieren, dass sie seltener in anderen Erinnerungen mitaktiviert sind. Und dadurch überschneiden die Netzwerke von den verschiedenen Erinnerungen weniger – und wir vergessen seltener.

Warum sollte man auf die Intuition hören?
Wenn man nur die bewussten Argumente abwägt, gibt es eine Verzerrung, die bewussten Argumente sind dann übergewichtig. Unbewusste Argumente können aber sehr wichtig sein. Deshalb gibt man den Ratschlag in der Psychologie, bei komplexen Entscheiden auf das Bauchgefühl zu hören, wo die unbewussten Argumente einfliessen können.

Aber ist Intuition wirklich verlässlich?
Viele Fachleute verlassen sich auf ihre Intuition. Man redet nicht so gern darüber, weil es nicht so niet- und nagelfest ist, aber es ist eine Tatsache. Auch Ärzte in der Chirurgie zum Beispiel. Erfahrene Ärzte können ihren Assistenzärzten nicht immer logisch erklären, warum sie in einem bestimmten Moment so operieren und nicht anders. Weil sie so viel Erfahrung haben – und diese leitet sie unbewusst. Nicht alle Erfahrungen sind bewusstseinsfähig. Es kann nicht immer jedes Wissen mittels einer breiten Hirnaktivierung abgerufen und dadurch bewusstseinsfähig werden. Wenn alles Wissen immer bewusstseinsfähig abgespeichert würde, hätten wir bald keinen Platz mehr im Gehirn zum neu Lernen.

Hat denn überhaupt jeder und jede eine Intuition?
Manche Leute wollen nicht mit ihrem Unbewussten konfrontiert werden, die würden das abstreiten. Es gibt auch ganz viele Psychologen, die sich mit dem Unbewussten überhaupt nicht beschäftigen, ich bin eher eine Ausnahme. Die meisten Kollegen interessiert nur das Bewusstsein. Also der schmale Bereich, etwa 20 Prozent von unseren Gedanken, über den überhaupt gesprochen werden kann, weil es eben bewusstseinsfähige Gedanken sind. Man schätzt, dass 80 Prozent aller psychischen Inhalte nicht bewusst sind. Da würde ich mir wünschen, dass es mehr Leute gäbe, die das auch erforschen.

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