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Der Podcast verschriftlicht:

Jan Vontobel: Heute ist der grosse Tag der Lockerung in der Schweiz. Schulen, Läden, Fitnesscenter, Museen, usw. öffnen mindestens zum Teil wieder. Dies ist möglich, da die Zahlen der neuen Infektionen zurück gegangen sind: 39 neue Fälle meldet das Bundesamt für Gesundheit heute und Daniel Koch meinte am Nachmittag: «Die Situation sei sehr gut, dank dem Verhalten der Menschen in der Schweiz.» Ich vermute, du siehst das ähnlich, Beat Glogger?
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Beat Glogger: Beim Durchgehen in der Altstadt Winterthur sehe ich ein gutes Verhalten – kein Anlass zur grösseren Sorge. Ich hoffe, dass es so bleibt.

Jan Vontobel: In den letzten Wochen und Monaten hat man sich grösstenteils an diese Massnahmen gehalten und dies ist auch der Grund, warum die Zahlen zurück gegangen sind.

Beat Glogger: Das ist der Grund und vor allem die Bedingung. Wenn die Zahlen zurückgehen, sollten sie auch zurückbleiben. Sonst hängt ja immer noch das Schwert über uns. Es könnte ja immer noch sein, dass man zu wenig diszipliniert ist und die Zahlen in die Höhe schnellen. Dann müssten gewisse Einschränkungen wieder reaktiviert werden.

Jan Vontobel: Jetzt, mit diesen wenigen Fällen, konnte man das Regime ändern. Neu sollen wieder alle Fälle zurückverfolgt und Leute, die Kontakt mit positiv getesteten Personen gehabt haben, wieder konsequent unter Quarantäne gestellt werden. Wie schätzt du das aus wissenschaftlicher Sicht ein? Ist das eine sinnvolle Strategie?

Beat Glogger: Absolut sinnvoll. Die Frage ist: Wie hat man die Sicherheit, dass man über alle möglichen Communities und Bevölkerungsgruppen die Übersicht hat? Wir haben ja auch schon über die Tracing-App gesprochen und dass es nicht reicht, lediglich über diese App zu beobachten. Es ist eine Kombination von Massnahmen – elektronische wie eben auch Tests. Aber man muss sicher sein, dass man nicht irgendwelche Communities übersieht. Wir haben auch schon über Singapur gesprochen, wo zum Beispiel die Wanderarbeiter durch das Beobachtungsraster gefallen sind. Dies ist unsere Herausforderung. Vor allem, wenn man Bevölkerungsgruppen wie in der Schweiz hat, die fremdsprachig sind. Auch diese muss man gut erreichen, damit sie sich bei den Ärzten melden, um getestet zu werden. Dies ist eine echte Herausforderung, denke ich.

Jan Vontobel: Genau. Und was diese Tests anbelangt, sagte soeben Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit, dass sich alle Leute testen lassen sollen. Auch wenn man nur ganz leichte Symptome hat. Man soll sich beim Hausarzt melden und einen Test veranlassen. Das ist etwas, was du immer wieder gefordert hast.

Beat Glogger: Ich bin auch nicht der Einzige, der das gefordert hat. Eigentlich sehen das alle Leute so, und man weiss aus den ausländischen Beispielen, dass es nützt.

Jan Vontobel: Wir hatten ja schon Anfang März so wenige Fälle wie jetzt, doch dann ist es rasant aufwärts gegangen. Klar, wir haben immer noch scharfe Regeln, die gelten: Immer noch Abstand halten, Grossanlässe gibt es nicht mehr, man sieht immer mehr Menschen Masken tragen. Reicht das, damit die Zahlen tief bleiben?

Beat Glogger: Die Frage wäre: Was haben wir noch? Grossveranstaltungen waren immer die Hauptüberträger. Die Umzüge, die Paraden, die Partys. Und ich denke, es ist vorerst das Wichtigste, dass wir die bis Ende Sommer nicht erlauben.

Da ist die Frage: Was ist eine Grossveranstaltung? Das ist eine politische Auseinandersetzung. Sind das 100, 250 oder 500 Personen? Da würde ich auf der sicheren Seite bleiben.

Jan Vontobel: Man sieht es in Südkorea. Eine einzige Person steckte offenbar Duzende im Ausgehviertel an. Da sieht man, wie vorsichtig man bleiben soll.

Beat Glogger: Da muss man vorsichtig bleiben. Als wir den Übertragungsweg besprochen haben, redeten wir über die sogenannten «Superspreader». Man weiss nicht genau, wieso genau diese mehr Viren weitergeben. Doch, wenn es an einigen Ort gut geht, heisst das nicht, dass es an anderen Orten nicht schlecht gehen kann. Speziell wenn es sich dabei um einen «Superspreader» handelt, der an einem Ort ein paar Duzend ansteckt.

Jan Vontobel: Wir haben in dieser Sendung schon häufig über die Reproduktionszahl R geredet. Diese Zahl sagt aus, wie viel ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Ist sie unter 1 geht die Zahl der Neuinfizierten zurück. Ist sie über 1 steigt sie an, mindestens in der Theorie. Deutschland weist seit dem letzten Wochenende wieder einen R-Wert von mehr als 1 aus. Ist das eine Gefahr – zumindest für Deutschland?

Beat Glogger: Wenn der Wert dauerhaft über 1 ist, muss es mehr Fälle geben und die Fallzahlen müssen wieder steigen. Allerdings ist dieser R-Wert nicht absolut sicher. Er hat eine Verlässlichkeit von 95 Prozent. Wenn man die Zahl vom Robert-Koch-Institut von letzter Mitternacht nimmt – da ist der Rt 1,13 angegeben – dann könnte das auch heissen, dass er nur 0,94 ist. Aber es kann auch heissen, dass er 1,35 ist – nach oben oder nach unten die 5 Prozent. Wenn wir jetzt Glück haben, ist er 0,94, wenn wir Pech haben ist er sogar 1,35. Ich würde mich nicht allzu früh in Sicherheit wägen, aber beobachten. Wenn der Trend aufwärts geht – nicht, wenn er einmal nach oben ausschlägt, sondern langsam immer aufwärts geht – muss man das ernst nehmen.

Jan Vontobel: Mit all den Massnahmen liegt der Wert um 1 herum. Heisst das, dass man momentan weitere Lockerungen aus wissenschaftlicher Sicht kaum verhängen dürfte?

Beat Glogger: Das ist sicher so. Es sind auch keine weiteren Lockerungen angesagt, sondern man will bis Anfang Juni warten. Das finde ich vernünftig. Was dann entschieden wird, müssen wir schauen.

Jan Vontobel: Logischerweise geht es jetzt darum, dass jede einzelne Person diese Massnahmen umsetzt. Sobald das nicht mehr der Fall ist, kann sich die Situation schnell wieder ändern. Da ist jeder Einzelne gefordert, den Abstand und die Hygienemassnahmen einzuhalten.

Beat Glogger: Das gilt weiterhin. Ich habe einen interessanten Kommentar von Eric Gujer in der NZZ gelesen. Er sagte: «Die heikelste Phase beginnt jetzt.» Bis jetzt konnten wir sagen, der Staat, das Bundesamt für Gesundheit oder der Bundesrat hat die Verantwortung. Wir machen das, was die sagen. Doch jetzt beginnt die Eigenverantwortung. Die muss wahrgenommen werden.

Jan Vontobel: Was wir an diesem Wochenende gesehen haben: In der Schweiz und in Deutschland gab es Proteste gegen den Lockdown. Zum Teil haben sich tausende Menschen versammelt, manchmal mit Abstand, manchmal aber auch nicht. Ausgerechnet jetzt, wenn die Massnahmen gelockert werden. Wie schätzt du das ein?

Beat Glogger: Ich bin kein Psychologe, doch es kommt mir etwas absurd vor. Ich verstehe, dass die Leute genug haben, sie auch langsam müde und erschöpft sind, Sehnsucht nach Geselligkeit haben. Doch dass man jetzt protestiert, nachdem man lockert, kommt mir vor wie ein Kind, dass sich hinter dem Sofa versteckt, wenn das Ungeheuer kommt, und wenn das Ungeheuer weg ist, kommt es hervor und sagt: «Woah, du böses Ungeheuer, ich vertreibe dich jetzt!» Ich verstehe den Zeitpunkt nicht, ausgerechnet nach dem Lockern für eine Lockerung zu protestieren.

Jan Vontobel: Es gab schon früher in der Geschichte ähnliche Fälle, bei denen es grössere Proteste gab.

Beat Glogger: Ich habe eine schöne Quelle gefunden. Da gibt es einen schönen Satz, der zitiert wird: «Die aufgeregte Menge stand von einigen Unruhestiftern, irregeleitet in dem Wahn, dass man die Cholera und die Sicherungsmassregelung nur gebrauche, um den gemeinen Pöbel auszurotten.» Das ist ein Zitat von 1831 aus der Stadtchronik der polnischen Stadt Stettin. Man hatte damals also auch Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Gewerbebeschränkungen, um die Cholera einzudämmen. Und die Leute begannen dagegen zu protestieren, weil sie glaubten, dass mache ihre Obrigkeit nur, um ihr «gemeines Volk auszurotten». Ähnliche Parolen konnten wir jetzt auch, zumindest an den Demonstrationen in Stuttgart und Berlin lesen. In der Schweiz waren sie noch nicht ganz so aggressiv, aber die Muster wiederholen sich in der Geschichte.

Jan Vontobel: Du sagtest ja, du seist nicht Psychologe, um die Situation einzuschätzen. Doch wir wollen das Thema trotzdem vertiefen, indem wir Toni Berthel dazu schalten. Er ist Psychiater und ist bis vor kurzem Co-Direktor der Integrierten Psychiatrie Winterthur gewesen. Herr Berthel, Beat Glogger hat das Gefühl, dass die Proteste jetzt kommen, weil man die Angst vor diesem Virus etwas verloren hat und es erste Lockerungen gibt. Sehen Sie das ähnlich?

Toni Berthel: Zuerst muss gesagt sein: Der grösste Teil der Gesellschaft wird das gut umsetzen und die Auflösung des Lockdowns ruhig angehen. Das ist vorerst das Wichtigste. Es gibt für mich drei Gruppen: Die klassischen Verschwörungstheoretiker, die in allem, was passiert, eine dahinterstehende Idee finden. Dann gibt es eine Gruppe Menschen, die grundsätzlich kritisch gegenüber Staat, Institutionen und Interventionen eingestellt sind. Die gibt es immer. Und dann gibt es Gruppen, bei denen man sieht, dass sie seit mehreren Wochen in einer Angst, Anspannung und Verunsicherung gewesen sind und jetzt, wenn sich das auflöst und man sagt, man dürfe wieder mehr unternehmen, fällt ihnen ein Stein vom Herzen. Man fühlt sich leicht, euphorisch. Dann versteht man plötzlich nicht mehr, warum man überhaupt so viel Angst hatte. Diese Angst wirft man ab und projiziert sie gerne in etwas rein. Hier in diesem Fall in Individuen, die uns etwas antun wollten oder Schuld daran sind, dass wir uns zurückziehen mussten. Hier entsteht eine blöde Verquickung von Menschen, die eben so reagieren und den Verschwörungstheoretikern, die sich an einem Ort finden.

Jan Vontobel: Das heisst, dass man einen Schuldigen sucht, einen Schuldigen findet und so auch ganz unterschiedliche Gedanken und Hintergründe vereinen kann. Und so treffen sich Gruppen, die gar nicht viel gemeinsam haben – ausser dem Kampf gegen diese Massnahmen, gegen die Obrigkeit, der sie verbindet?

Toni Berthel: Ich denke das auch. Wenn man in einer Krisensituation Angst hat, sucht man Sicherheit und ist froh, wenn jemand die Führung übernimmt und es klare Vorgaben gibt. Gleichzeitig ist es ambivalent, denn die meisten Menschen denken, wir sind Individualisten, wollen frei sein, wollen ohne Druck von aussen durchs Leben gehen. Dann entstehen unbewusste und unreflektierte Reaktionen, die in so etwas münden können.

Jan Vontobel: Haben Sie das Gefühl, es nimmt in den nächsten Tagen und Wochen noch zu, dass sich diese Gruppen noch stärker finden und sich gegenseitig anstacheln?

Toni Berthel: Das kann ich nicht beurteilen. Das eine ist die Krisensituation, das andere, wie nach der Krisensituation die Normalität zurückkehrt. Da beginnt die Verarbeitung der Geschichte, die wir durchgemacht haben. Dabei gibt es unterschiedliche Tempi, die jeder Mensch hat. Nicht jeder reagiert gleich schnell. Für die einen geht es dann zu schnell und für die anderen zu langsam. Wie es dann wird, kann man heute noch nicht sagen, doch wir müssen uns darauf vorbereiten, dass immer mehr Leute sagen werden: «Man hat uns etwas genommen, man hat uns unsere Freiheit nicht zugestanden, die wir zugute gehabt hätten», und, und, und. Dies steht im Gegensatz zum Wunsch: «Wenn es mir schlecht geht, muss mir jemand helfen.» Dieser Wunsch geht nicht auf, und dieses Spannungsfeld werden wir in den nächsten Monaten noch einige Male diskutieren müssen.

Jan Vontobel: Wie kann man denn mit diesem Spannungsfeld umgehen? Oder, wie kann man mit diesen Protesten umgehen? Erreicht man die Leute überhaupt?

Toni Berthel: So wenig wie man Menschen, die grosse Angst haben, mit Vernunft diese Angst nehmen kann, so ist es in diesem Fall auch: Wenn jemand das Gefühl hat, die Welt sei eine Verschwörung, und das was jetzt passiert, mache jemand gegen uns – das kann man nicht wegreden. Da müssen wir auf der einen Seite eine klare Position haben und die Sicherheit weitergeben, zum Beispiel die Distanzierung, das Hände waschen, das Sicherheit geben. Und für das brauchen wir weiterhin eine Regierung, die eine klare Position vertritt. Auf der anderen Seite müssen wir schauen, dass sich die Wissenschaft jetzt von den Epidemiologen hin zu den Wirtschaftswissenschaftlern und den Politikwissenschaftlern verschiebt, die auch ihren Beitrag leisten müssen, damit wir in den Prozess der Normalisierung kommen. Und das ist ein interaktiver Prozess zwischen den verschiedenen Involvierten und den Menschen, die dabei sind und dann eben merken: «Aha, die wissen, was sie machen. Das gibt uns Sicherheit und Logik und dem Weg gehen wir nach.»

Jan Vontobel: Beat Glogger, siehst du, dass sich das schon ein bisschen verschiebt?

Beat Glogger: Die Verschiebung ist absolut klar und ich schaue nochmals auf den Text von 1831 in Stettin. Was ist dort passiert? Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann sie als Spiegel sehen. In Stettin 1831 gab es Anführer. «Von Unruhestiftern in die Irre geleitet» heisst es im Text. Und das haben wir im Moment auch. Das sind Leute, die sich mit Verschwörungstheorien exponieren.

In Deutschland ist es ganz klar der Sänger Xavier Naidoo, es ist Billy Six, es ist Ken Jebsen, die ihre alten, immer gleichen Theorien in einem neuen Gewand verkaufen. Ken Jebsen hat 9/11 geleugnet, er ist 5G-Gegner und so weiter. In der Schweiz profiliert sich gerade ein Thomas Binder, der Arzt aus Wettingen damit: 9/11 war ein Schwindel, die Klimaveränderung ist ein Schwindel, 5G ist ein Betrug und so weiter. Und jetzt wird einfach die gleiche Message in einem neuen Kontext nochmals erzählt. Das ist die Parallele zur Geschichte. Und wie haben es die Stettiner gelöst? Und das ist das, was Herr Berthel auch gesagt hat: Es braucht jemanden, der den einzelnen Rädelsführer Paroli bieten kann. In Stettin ist es übel zugegangen: Der Pöbel hat Waffenlager geplündert, sie sind am Ende mit Gewehren aufeinander losgegangen, und zum Schluss ist sogar jemand erschossen worden. Erst als der Kronprinz aus der Hauptstadt angerückt ist, hat er die Menge beruhigen können, und alles ist zum Schluss gut geworden. Was lerne ich daraus für heute? Es ist wieder Kommunikation, Jan, wir haben es schon x-mal gesagt. Jetzt muss sich jemand hinstellen, der gut kommuniziert, der beruhigend wirkt. Nicht einlullend, so dass die anderen wiedersagen können: «Die kaufen oder verführen euch», sondern eine glaubwürdige Kommunikation vom Bundesrat oder einer Einzelperson, die den Leuten vor allem die Sicherheit wiedergeben kann auf dem Weg aus dem Lockdown heraus.

Toni Berthel: Es gibt natürlich unterschiedliche Tempi, die gegangen werden. Alte Leute haben andere Tempi, in denen sie wieder zurückkommen, die jungen wieder andere. Es sind auch andere Lebensphasen, in denen sich die Menschen befinden. Jugendliche haben zum Beispiel einen Lebens- und Erlebnishunger, sie brauchen den öffentlichen Raum für ihre Entwicklung. Das heisst, mit ihnen müssen wir anders umgehen als mit Risikogruppen, die Angst haben und denen man zeigen muss, wie sie in ihrer Umgebung wieder sicher soziale Kontakte pflegen können. Wichtig wird sein, dass man es nicht mehr als eine Krise betrachtet, sondern als verschiedene Hotspots, die entstehen werden. Und für die braucht es eigenständige und unterschiedliche Interventionsstrategien. Das heisst, es braucht ziemlich sicher eine Strategie vom Bund und für die verschiedenen Themen Leadertypen, die der betreffenden Gruppe alles verständlich erklären können, so dass diese Gruppe ihren Weg ohne Ansteckung oder sonstige Schäden gehen kann.

Jan Vontobel: Wie wichtig ist dabei das soziale Umfeld der einzelnen Personen? Sie haben es angesprochen: Es gibt Menschen, die schneller vorwärtskommen wollen, es gibt aber auch sehr viele Menschen, die Angst haben, die heute vielleicht mit grosser Angst wieder arbeiten gehen mussten und in einen Zug steigen mussten. Ist es wichtig, dass das persönliche Umfeld sich um diese Personen kümmert und dass man sich austauscht und miteinander diskutiert?

Toni Berthel: Es gibt auch hier unterschiedliche Anspannungen im Menschen. Die Grundstimmung ist nicht bei jedem Menschen gleich. Es gibt Menschen, die haben relativ schnell und viel Angst, andere wiederum sind unbeschwerte Seelen und verleugnen Gefahren. Es geht darum, dass man bei den verschiedenen Menschen sieht, wo man eine Risikoabschätzung machen und wie man Distanzregeln einschalten kann? Dabei ist es ganz wichtig, dass man weiss, dass eigene Beziehungen funktionieren. Und dass vor allem die Menschen, die grosse Angst haben, einen Ort finden, wo die Regeln eingeübt werden und wo man sieht, dass andere Menschen einen nicht anstecken wollen und sich auch an Regeln halten. Das gibt wieder Sicherheit. Der Wert vom Sozialen ist sehr zentral. Der Wert der sozialen Kontakte ist sehr, sehr hoch. Es geht, dass man ein paar Wochen darauf verzichtet, aber irgendwann brauchen wir das wieder. Darum müssen wir die Menschen auf dem Weg hin zu einer wieder normalen, sozialen Interaktion in dieser Gesellschaft unterstützen.

Jan Vontobel: Soll ich, wenn ich jemanden mit extremer Angst in meinem Umfeld habe, das Gespräch suchen oder die Person auf professionelle Hilfe hinweisen?

Toni Berthel: Ansprechen soll man es immer. Unter anderem damit Beziehungen gepflegt werden und der Mensch spürt, dass andere Personen sich um ihn kümmern. Wenn es in diesem Rahmen nicht mehr zu bewältigen ist, ist es wichtig, dass man bei Psychologen, Psychiatern oder bei Hausärzten Hilfe holt. Die können einen dann weiterverweisen, falls es nötig ist. Dort kann man dann mit Gesprächen etwas machen. Wenn es sehr schwierig ist, muss man natürlich auch mal ein Medikament einsetzen. Grundsätzlich kann man lernen, mit dieser Angst umzugehen. Denn blanke Angst ist auch eine Möglichkeit, nicht über das Ziel hinauszuschiessen, sondern sich realistische Ziele zu setzen, die ich mit meinen individuellen Ressourcen erreichen kann.

Jan Vontobel: Und wenn das genaue Gegenteil der Fall ist? Man ist ein Elternteil von einem Kind, das die Massnahmen überhaupt nicht ernst nimmt und sich darüber lustig macht. Das Kind hört wahrscheinlich ja kaum auf die Eltern, wenn man versucht, mässig Einfluss zu haben. Wie soll man da vorgehen?

Toni Berthel: Das ist natürlich ein anderes Thema. Bei einem Kind ändert sich durchs Angst machen natürlich nichts, weil die meisten Kinder niemanden kennen, der krank geworden ist. Man muss auf die Vernunft setzen. Vernunft kann heissen, dass man die Regeln für Jugendliche zum Beispiel so aufstellt, dass sie in der Gruppe gewisse Kontakte zulassen und zu anderen Gruppen Distanz haben. Das wäre eine Möglichkeit, einzuüben, dass alle wieder selbst Verantwortung übernehmen können. Ich finde es sehr wichtig, dass wir alle privat selbst Verantwortung für das Risiko übernehmen. Für das gibt es Vorgaben und Regeln zum Beispiel vom Bund, aber die Umsetzung muss natürlich immer auf der individuellen Ebene erfolgen. Dabei müssen wir unsere Jugendlichen und Kinder unterstützen, damit sie ihren Weg zur Risikominimierung finden.

Jan Vontobel: Beat Glogger, da ist wieder das Stichwort «Eigenverantwortung», das du auch schon ein paarmal erwähnt hast. Ich nehme an, das siehst du ähnlich.

Beat Glogger: Das sehe ich genauso und ich bin eigentlich recht optimistisch, dass das gut funktioniert. Ich erlebe ein paar laute Personen, die ausrufen und jetzt wieder mutig sind, und eine grosse Menge, die recht vorsichtig und vernünftig ans Werk geht.

Toni Berthel: Ja, es ist natürlich immer so, es gibt immer ein paar wenige, die im Moment laut rufen. Wenn man heute in den Tages-Anzeiger schaut, dann ist es erstaunlich, dass ein Bauer, der als Verschwörungstheoretiker…

Jan Vontobel: Der Urs Hans von den Grünen.

Toni Berthel: Dass er so viel Ruhm kriegt. Und auf der anderen Seite alle, die vernünftig handeln, wenig vom Ruhm bekommen. Wir haben auch eine Presse und Medien, die sich an den Skandalen orientieren als an einer weiteren Person, die sagt: «Ich bin froh, dass der Bundestag so gearbeitet hat.» Und ich glaube, das ist etwas wichtiges, dass man die vernünftigen Figuren dieser Gesellschaft stützt, dass man auch weiter eine Koalition der Vernunft hat. Jetzt müssen wir aufpassen, dass nicht noch die Parteien auf den Zug aufspringen und die einen kombinieren das mit den Ausländern, die anderen kombinieren das mit der Umwelt und wieder andere mit der Grossfinanz. Dass man sieht, man muss das zurücknehmen auf das, was realistisch ist und auf das, worum es geht: Das Virus, Social Distancing und ums Hände waschen und so weiter. Damit sind wir auf einem guten Weg. Wir dürfen uns jetzt nicht überladen mit allen gesellschaftlichen Problemen, die es in der Welt sonst noch gibt.

Jan Vontobel: Genau, alle gesellschaftlichen Probleme sind geblieben und haben sich zum Teil auch akzentuiert. Die kann man wahrscheinlich nicht im gleichen Atemzug wie die Coronakrise lösen. Besten Dank, Toni Berthel, dass Sie sich die Zeit genommen haben und als Gast in der Sendung mitdiskutiert haben.

Und auch dir, Beat Glogger, vielen Dank! Das war jetzt die 26. Ausgabe von der Sendung, die wir hier zusammen gemacht haben. Und auch die vorerst letzte. Wir sind zum Entschluss gekommen, dass wir am Ende vom grossen Lockdown auch die Sendungsreihe einstellen wollen. Auch ein bisschen auf deinen Wunsch hin. Kannst du kurz erklären, warum du zu dem Entschluss gekommen bist, dass jetzt wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt ist.

Beat Glogger: Ich glaube, die Wissenschaft ist erklärt. Und wer wissen möchte, wie das mit dem Virus und der R-Zahl ist, wie eine epidemiologische Kurve aussieht – das kann man nicht nur bei unserer Quelle, nicht nur in unserem Podcast. Das kann man nachlesen. Was jetzt passiert, ist ein gesellschaftlicher Prozess einerseits, der muss Zeit haben. Und die Wissenschaft läuft natürlich weiter: Die Entwicklung eines Impfstoffs, die Studien zu den Langzeitfolgen, das Studieren der Immunität: Wie ist sie? Das braucht einfach Zeit und jetzt können wir wirklich nicht mehr in einem Tagesrhythmus erscheinen, wie wir es am Anfang gemacht haben mit den Science-News. Aber ich denke, sobald es wieder etwas gibt, was aus wissenschaftlicher Sicht berichtenswert ist, werden wir uns wieder einschalten.

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Coronavirus-Podcast

Im Jahr 2020 produzierte higgs in Kooperation mit Radio 1 einen täglichen Podcast zur Corona-Pandemie. higgs-Gründer Beat Glogger und Radio-1-Chefredaktor Jan Vontobel analysierten das aktuelle Geschehen möglichst unaufgeregt mit Hintergrundinformationen aus der Wissenschaft. Auf Radio 1 wurde die Sendung täglich von Montag bis Freitag nach den 16-Uhr-News ausgestrahlt.
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