Das musst du wissen

  • Der Unkrautvernichter Roundup sei Auslöser für den Krebs eines Bauern, entschied ein US-Gericht.
  • Doch eigentlich kann ein Gericht gar nicht über wissenschaftliche Fakten bestimmen, sagt der Jurist Tilmann Altwicker.
  • Da die Richter wissenschaftliche Methoden zu wenig verstehen würden, drohten Fehlentscheide im Gericht.

Sechsundzwanzig Jahre lang versprühte der Kalifornier Edwin Hardeman den Unkrautvernichter Roundup auf seinem Grundstück. Nur mit dem Monsanto-Produkt, welches die umstrittene Chemikalie Glyphosat enthält, wurde er ein hartnäckiges Efeu – den kletternden Gift-Sumach – auf seinem Land los. Im Jahr 2015 diagnostizierten ihm Ärzte ein bösartiges Lymphom, 2016 klagte er gegen den Hersteller des Herbizids, den deutschen Chemie- und Pharmakonzern Bayer, zu dem Monsanto gehört. Diese Woche nun bestätigte ein US-Gericht: Der Unkrautvernichter löste Hardemans Krebs aus.

Moment. Kann das ein Gericht überhaupt entscheiden? Kann ein Richter darüber urteilen, wie krebserregend eine Substanz ist? Kann er über wissenschaftliche Fakten befinden, als wäre es eine im Gericht alltägliche Streitfrage?

«Den meisten Richtern fehlt schlicht die Vorbildung, wissenschaftliche Erkenntnisse zu beurteilen», sagt Tilmann Altwicker, Jurist an der Universität Zürich. «Solche Urteile zeigen ein grundsätzliches Problem des Rechtssystems auf.» Altwicker erforscht das Verhältnis zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft in der Schweiz. Seine Untersuchungen zeigen etwa, dass das Schweizer Bundesgericht zwar immer öfter auf wissenschaftliche Statistiken zurückgreift, um seine Entscheide zu fällen. So nahm der Begriff «Statistik» in Leitentscheiden des Bundesgerichts seit 1954 um das Fünffache zu. Insgesamt aber liegt der Anteil der Entscheide, die Bezug auf eine Statistik nehmen, auch im Jahr 2016 immer noch unter einem Prozent.

Tilmann Altwicker

Universität Zürich


Tilmann Altwicker ist SNF-Förderungsprofessor für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechtsphilosophie und empirische Rechtsforschung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.

«Ein Grund dafür sind wohl Berührungsängste der Richter mit der Wissenschaft», vermutet Altwicker. Denn im Jus-Studium würden die Studierenden weder mit Statistik noch mit natur- oder sozialwissenschaftlichen Methoden vertraut gemacht. Die Sprache dieser Wissenschaften seien den Richtern daher fremd, sagt Altwicker. «Das führt zwangsläufig zu Fehlentscheiden.»

Fehlentscheid des Bundesgerichts?

Problematisch sei beispielsweise das Urteil des Schweizer Bundesgerichts im Wädenswiler «Glockenstreit» gewesen. Zwei Zürcher Gerichte verboten der Kirche im Zentrum von Wädenswil das Läuten der Viertelstundenschläge in der Nacht. Damit kamen die Richter der Lärmklage eines in unmittelbarer Nähe der Kirche wohnenden Ehepaars nach. Im Dezember 2017 hob das Bundesgericht die vorausgegangenen Urteile jedoch wieder auf.

Das Pikante an diesem Entscheid: Dem Gericht lag eine Studie der ETH Zürich vor, die untersucht hatte, wie oft Menschen durch nächtliches Glockengeläut aufwachen. Die Forscher hatten einen deutlichen Zusammenhang gefunden. Doch in seinem Urteil bezeichnete das Bundesgericht die Studie als nicht ausschlaggebend, und zwar gegen die ausdrückliche Empfehlung des Bundesamts für Umwelt, das sich dafür ausgesprochen hatte, die Glockenschläge zwischen 22 Uhr abends und 7 Uhr morgens einzustellen.

In seinem Entscheid hielt das Bundesgericht die Stichprobengrösse der ETH-Studie für zu klein. Das könne man mit guten Gründen anders sehen, sagt Jurist Altwicker. «Die Richter haben das Design der Studie nicht richtig gewürdigt». Denn auch wenn die Studie bloss 27 Probanden untersuchte – das war gar nicht die eigentliche Stichprobe. Denn die ETH-Forscher untersuchten nicht Menschen, sondern einzelne Aufwachereignisse. Und davon gab es in der Studie 1322 – genug, um eine wasserdichte Aussage zu machen.

An der Universität Zürich fordert Altwicker deshalb, dass Jus-Studierende ein oder zwei Semester Statistik besuchen sollten. Altwicker selbst hat seine Hausaufgaben erledigt: In den Jahren 2015 bis 2017 machte er einen Abschluss in angewandter Statistik an der ETH Zürich.

Auch wenn er auf Widerstand stösst – das Jus-Studium sei heute bereits vollgepackt –, hält Altwicker an seiner Forderung fest: «Daten werden in unserer Welt immer wichtiger», sagt er. «Damit müssen angehende Juristen unbedingt lernen umzugehen.»

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