Das musst du wissen

  • Wenn Forschende in einem Thema den wissenschaftlichen Konsens klar machen, kann das die öffentliche Meinung prägen.
  • Viele in der Wissenschaft Tätige fürchten aber, ihre Glaubwürdigkeit durch öffentliches Auftreten zu kompromittieren.
  • Vor allem in politisch aufgeladenen Debatten können wissenschaftliche Stimmen zudem nicht viel ausrichten.

Die Stars der Stunde tragen einen weissen Kittel und kämpfen gegen das neue Coronavirus: Millionen Menschen haben den Podcast mit dem Virologen Christian Drosten bisher aufgerufen. 280 000 Mal spielten User das Video von Neuropathologe Adriano Aguzzi ab.

Und rund 12 000 Leute folgen dem Epidemologen Marcel Salathé auf Twitter. Forschende sind im grellen Rampenlicht – und das bringt nicht nur Erfreuliches: «’20 Minuten’ hat ein Potpourri meiner Posts zusammengestellt und einen Artikel daraus gemacht. Das hat 3 013 Kommentare ausgelöst, 99.9% davon sind Beleidigungen und Beschimpfungen. Ich bin auf dem besten Weg, der meistgehasste Wissenschaftler der Schweiz zu werden!», schrieb Aguzzi beispielsweise am 24. März.

Und trotzdem: Nachdem die Wissenschaft in den letzten Jahren durch «alternative Fakten», Schmähungen und persönlichen Angriffen ein Tief erlebte, blüht sie nun wieder auf. «Es bleibt keine Zeit, zu debattieren, zu lobbyieren oder Zweifel zu säen», erklärt Knutti das Phänomen in einem Gastbeitrag.

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Tatsächlich mag das der Grund sein. Denn: je weniger polarisiert ein Thema ist, desto eher können Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen etwas bewegen, wie eine Studie 2018 ergab. Darin legte der Kommunikationswissenschaftler David Morin Probanden verschriftlichte Debatten zwischen Wissenschaftlern und Verschwörungstheoretikern zum Lesen vor. Und das zu drei verschiedenen Themen: Genveränderte Lebensmittel, Klimawandel und die Evolutionstheorie. Resultat: Bei Debatten zu genveränderten Lebensmitteln beeinflussten die Aussagen der Wissenschaftler die Probanden am meisten. Bei den beiden anderen Themen hatten die Debatte wenig Auswirkungen auf die Meinung, selbst wenn betont wurde, dass ein wissenschaftlicher Konsens besteht. Grund: Je heisser das Thema und je mehr ideologische Identität damit verbunden ist, desto resistenter waren die Probanden für Argumente.

Science-Check ✓

Studie: To debate or not debate? Examining the effects of scientists engaging in debates addressing contentious issuesKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des Autors Die Anzahl Probanden ist klein, auch ist die Gruppe sehr homogen, da alles Studenten und Studentinnen sind. Die religiösen und politischen Meinungen wurden nur durch je eine Frage eruiert. Ausserdem wurden transkribierte Auszüge aus Debatten schriftlich vorgelegt. Im Fernsehen oder Radio könnten sie eine andere Wirkung haben. Die Studie ist deshalb mit Vorsicht zu geniessen, gibt aber Hinweise.Mehr Infos zu dieser Studie...

Dass Forschende in der Coronakrise eine führende Rolle einnehmen konnten, liegt also daran, dass das Thema neu war. Die verschiedenen politischen Lager hatten das Thema noch nicht beansprucht und instrumentalisiert. Je mehr Zeit nun aber verstreicht, desto mehr werden gewisse Positionen ideologisch vereinnahmt werden. Und der Ton wird härter werden.

Angefeindete Forschende

«Das Klima da draussen in der Öffentlichkeit ist rau», sagt auch Reto Knutti. Der Klimaforscher ist in den letzten Jahren zum gefragten Interviewpartner geworden. Wenn es in der Schweiz um Klima geht, dann fragt man Herr Knutti. Dadurch zieht er auch Hass, Missgunst und Trolle an. Und gerät zwischen politische Fronten.

Deshalb gibt es auch Forschende in der Schweiz, die sich öffentlich nicht mehr äussern. «Das ‘Wagnis der Öffentlichkeit’ hat mich viel gekostet», schreibt eine Wissenschaftlerin auf Anfrage und lehnt ein Gespräch zu dem Thema ab. Zu hoch der Zeitaufwand. Zu gering das Resultat. Und zu hoch der persönliche Schaden, den sie nehmen könnte: den Verlust der Glaubwürdigkeit.

Wissenschaftlich gesehen gibt es dazu zwar keinen Grund: Eine nationale Studie in den USA ergab, dass es der Glaubwürdigkeit von Forschenden nicht schadete, sich öffentlich zu äussern oder sogar für eine Sache einzusetzen. Nur, wenn sehr explizite Anliegen unterstützt wurden, wie zum Beispiel der Bau von neuen Kernkraftwerken, sank die Glaubwürdigkeit. Und auch der Science Barometer der Schweiz ergab 2019, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft sehr hoch ist.

Doch öffentliche Anfeindungen sind oft schwierig zu parieren. Wie kann eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler in der harschen Welt von Twitter und Co. also überleben? «Die Kommunikation, die am besten funktioniert, ist jene, wo eine klare Trennung zwischen Fakten und Handlungsoptionen besteht», empfiehlt Reto Knutti. Es gelte, Fakten darzulegen und die möglichen Szenarien zu beschreiben. Welches Szenario dann gewählt würde, sei die Entscheidung der Gesellschaft. «Forschung schreibt kein Szenario vor.»

reatch an der Front

In der Schweiz haben sich bezüglich Coronavirus etliche Forschende von Anfang an für korrekte Informationen eingesetzt. Vorne mit dabei: die Ideenschmiede reatch, die von jungen Forschenden betrieben wird. Bereits am 28. Februar organisierte der Verein einen Gastvortrag von Marcel Salathé und streamte ihn live.

Das war noch, bevor die Pandemie in der Schweiz angekommen war – und bevor Salathé in allen Medien herumgereicht wurde. «Wo die Wissenschaft direkte gesellschaftliche Auswirkungen hat, wo die Gesellschaft auf Wissen angewiesen ist, sollten sich Forschende generell stärker zu Wort melden, damit ein Verteidigungswall gegen den Missbrauch von wissenschaftlicher Information entsteht», sagt reatch-Präsident Servan Grüninger. reatch ging im Fall von Corona in Führung, publizierte Hilfestellungen für Journalistinnen und Journalisten, korrigierte auf Twitter was das Zeug hielt, erklärte Statistik. Die jungen Forschenden sind in ihrem Element. «Wir sind dafür da, die heissen Kartoffeln anzufassen», sagt Grüninger. «Und auch dafür, zu verhindern, dass Themen überhaupt zu heissen Kartoffeln werden.» Allerdings: Für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sei Vorsicht geboten: «Man muss aber aufpassen, dass man nicht instrumentalisiert wird, man gerät schnell zwischen die Fronten.»

Reto Knutti sagt: «Es gibt zwei Strategien: Irgendwann eine Elefantenhaut aufbauen oder aufhören». Man hofft, dass die Wissenschafts-Stars in der Coronakrise einen langen Atem haben.

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