Das musst du wissen

  • Die Ukraine betreibt vier Atomkraftwerke, in einem brach infolge der Auseinandersetzung bereits ein Feuer aus.
  • Verschiedene Sicherheitssysteme verhindern, dass es zur Kernschmelze kommen kann.
  • Ganz ausschliessen lässt sich ein Unfall mit katastrophalen Folgen jedoch nicht.

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Die Ukraine verlässt sich bei der Stromproduktion zu grossen Teilen auf Nuklearenergie. Mehr als fünfzig Prozent des ukrainischen Stroms stammen aus 15 aktiven Reaktoren an vier Standorten. Die friedliche Nuklearenergie kann im Kriegsfall jedoch zur Gefahr werden: Sowohl die stillgelegte Anlage Tschernobyl nahe der belarussischen Grenze als auch das Kernkraftwerk Saporischschja nördlich der Krimhalbinsel waren bereits in Gefechte verwickelt. Gemäss Medienberichten droht auch das Atomkraftwerk Süd-Ukraine in Juschnoukrajinsk in den Konflikt verwickelt zu werden.

Die Internationale Atomaufsichtsorganisation IAEA zeigt sich angesichts dieser Ereignisse in einer Mitteilung besorgt: Die Standards für nukleare Sicherheit würden derzeit nicht eingehalten. Wann die Atomkraftwerke zur Gefahr werden, erklärt Nuklear-Sicherheitsexperte Rafael Macián-Juan.

Herr Macián, die Einnahme des Kernkraftwerks Tschernobyl am 25. Februar ging gross durch die Medien. Aber welche Risiken gehen von der abgeschirmten Ruine in der entvölkerten Region überhaupt noch aus?

Das grosse Strahlungsschutzschild, welches zwischen 2010 und 2016 über dem zerstörten Reaktor errichtet wurde, ist meines Wissens sehr robust. Selbst wenn einige Schäden zugefügt wurden, hat auch der zerstörte Reaktor keine Möglichkeit, die radioaktiven Substanzen in die Luft zu bringen. Während des Unglücks 1986 kam es zu einem massiven Brand des Graphits im Reaktor, der die Kontamination auf grosse Gebiete ausbreitete. Auch heute würde von einem Brand die grösste Gefahr ausgehen. Dies ist aber höchst unwahrscheinlich, da der Reaktor keine Leistung produziert, sondern nur Zerfallswärme. Seine Temperatur erreicht damit bei weitem nicht die benötigte Temperatur, um den verbleibenden Graphit zu entzünden.

Rafael Macián-Juan

Rafael Macián-Juan ist seit 2007 Professor für Nukleartechnik an der Technischen Universität München, davor arbeitete zehn Jahre lang am Paul Scherrer Institut in der Reaktorforschung. Seit 2021 ist er ausserdem Mitglied im Rat der Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI.
 

Angenommen, die Belegschaft eines dieser Kraftwerke müsste unvermittelt fliehen: Was passiert dann mit den Reaktoren vor Ort?

Ich gehe davon aus, dass keine Absicht besteht, einen Unfall vorsätzlich zu verursachen. Auch wenn die Kraftwerke in einem solchen Fall von russischen Truppen eingenommen werden, müssen sie auch nach der Abschaltung von technischem Personal überwacht werden. Dies ist bereits der Fall, wie wir in den Nachrichten gesehen haben. Da russische Truppen keinen Spezialisten haben, haben sie dem ukrainischen Personal erlaubt, zu bleiben und die abgeschalteten Reaktoren zu verwalten. Die Anlagen müssen mit Strom aus dem Netz oder aus den Notstrom-Dieselgeneratoren der Anlagen versorgt werden. Solange es Strom gibt, können die Anlagen unbegrenzt in einem sicheren Zustand bleiben.

Gibt es denn Sicherheitssysteme, die in einer solchen Situation eine Kernschmelze verhindern, auch ohne dass dabei ein menschlicher Eingriff nötig wäre?

Ja natürlich. Solange die Anlagen mit Strom versorgt wird, können die Anlagen zeitlich unbegrenzt in einem sicheren Zustand bleiben. Selbst wenn das Stromnetz nicht verfügbar ist, können mit Notstrom-Dieselgeneratoren die Stromversorgung aufrecht erhalten, solange diese mit Treibstoff versorgt werden.

Reaktor 3, Kernkraftwerk Tschernobyl

Die Reaktorkammern sind stabil gebaut und gut geschützt. Wäre selbst bei einem direkten Raketen- oder Bombentreffer auf einen aktiven Reaktor ein Unfall mit katastrophalen Konsequenzen noch zu verhindern?

Das hängt von der Kraft der Explosion ab. Die Sicherheitsgebäude sollten robust genug sein, um den Einschlägen von Kugeln und Granaten standzuhalten. Aber wahrscheinlich würde es dem Aufprall einer grossen Rakete oder Bombe nicht standhalten. Ich weiss nicht genau, welche Art von Containment-Gebäuden der ukrainischen Reaktoren derzeit haben, da es nach dem Tschernobyl-Unfall ein Programm für deren Modernisierung gab.

Selbst nachdem das Containment-Gebäude aufgebrochen wurde, sollte die Wahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls sehr gering sein, solange der Reaktor selbst nicht angegriffen und zerstört wird und die Sicherheitssysteme in Betrieb bleiben. Auf jeden Fall sollten Militäreinsätze mit schweren Waffen oder direkte Bombardierungen von Kernkraftwerken unter allen Umständen vermieden werden, was bisher geschehen ist. Abgesehen von dem Brand, der letzte Woche provoziert wurde und keinen Teil der Anlage mit nuklearer Aktivität betraf.

Angenommen, ein Reaktor wird in Erwartung kriegerischer Handlungen heruntergefahren: Die Brennstäbe verbleiben dennoch im Reaktor. Heisst das, dass die Gefahr komplett gebannt ist, oder könnte ein direkter Treffer trotzdem eine Kernschmelze verursachen?

Durch den radioaktiven Zerfall der Atome, die bei der Spaltung entstehen, wird Wärme freigesetzt. Diese muss durch Kühlsysteme aus dem Kern abgeführt werden, selbst wenn der Reaktor abgeschaltet wird und sich der Brennstoff noch im Kern befindet. Geschieht dies nicht, kann der Reaktor schmelzen, da seine Temperatur sehr hohe Werte erreichen kann, wie es bei den Unfällen in Tschernobyl und Fukushima geschehen ist.

In den Kernkraftwerken finden sich angereichertes Uran, radioaktive Abfälle und anderes strahlendes Material. Gibt es Szenarien, in denen die radioaktiven Substanzen, die aus einem Kernkraftwerk entwendet werden könnten, eine kriegsrelevante Rolle spielen?

Nein. Das Material im Kern eines kommerziellen Reaktors ist nicht zur Herstellung von Atomwaffen geeignet. Es wäre sehr schwierig und kostspielig, das benötigte Plutonium oder Uran zu extrahieren und zu raffinieren. Es gibt andere Möglichkeiten, dies mit anderen Arten von Reaktoren zu tun, die speziell für diesen Zweck entwickelt wurden. Russland hat bereits viele davon und es würde keinen Sinn machen, die ukrainische Reaktoren für diesen Zweck zu verwenden. Ausserdem ist der Brennstoff extrem radioaktiv und die russischen Truppen haben keine Möglichkeit oder technisches Wissen, den Brennstoff zu entfernen, ohne selbst in kurzer Zeit an Strahlung zu sterben, wenn sie dies versuchen würden.

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