Das Velo verfügt über eine Eigenschaft, die ihm in jüngster Vergangenheit viel Auftrieb verschafft hat: Es ist ein Individualverkehrsmittel, man muss es mit niemandem teilen, keine Schutzmaske anziehen beim Besteigen. Seit sich das Virus Sars-CoV-2 in der Schweiz ausbreitet, ist der Veloverkehr gestiegen. Eine Studie der ETH Zürich und der Uni Basel hat ergeben, dass die Menschen öfter Rad gefahren sind und auch deutlich längere Strecken zurückgelegt haben seit dem Lockdown und darüber hinaus.

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Doch bereits vor dem Ausbruch der Pandemie waren die Zweiräder gefragt. Insbesondere diejenigen mit einem elektrischen Motor erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Im letzten Jahr gab es 133 033 neue stolze E-Velo-Besitzer. Im Jahr 2015 waren es noch halb so viele. Innert nur vier Jahren hat sich der Verkauf von E-Bikes also verdoppelt.

In der oft hügeligen bis bergigen Schweizer Landschaft verspricht das E-Bike natürlich Vorteile. Die neue Spezies der E-Bike-Fahrenden hat sich hierzulande deshalb schnell etabliert. Doch wer genau schwingt sich auf den elektrischen statt auf den herkömmlichen Drahtesel?

Die Spezies der E-Velocipedisten

Noch vor zehn Jahren hätte die Beschreibung der E-Velofahrer so gelautet: Der typische E-Velo-Besitzer ist über 65 Jahre alt und vielmehr eine E-Velo-Besitzerin. Heute bietet sich ein anderes Bild. Die E-Velo-Fahrenden sind ein bunt gemischtes Völkchen, sowohl Männer als auch Frauen, mit Vertretern fast aller Altersklassen. Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses, währenddessen sich das Image des E-Bikes gewandelt hat. Zusätzlich kamen in den letzten Jahren zwei grosse Trends dazu: seinem Körper und der Umwelt möglichst Gutes zu tun.

Dies setzte in den 90er Jahren ein. Zuvor hatte das Auto das Velo als Verkehrsmittel wortwörtlich an den Rand gedrängt. Das Velo – zum Sportgerät degradiert – wurde überwiegend in der Freizeit genutzt. Doch dann begann sich das zu ändern.

Nun ist das Velo nicht mehr hauptsächlich für jene, die sich nichts Teureres leisten können, sondern wird fast durchwegs positiv wahrgenommen. Dies spiegelt sich auch in einer Studie, die an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne EPFL im Jahr 2012 durchgeführt wurde: «Sportlich», «praktisch» und «ökologisch» sind Adjektive, welche die Befragten mit dem Velo assoziierten.

Radlern wird demnach eine bestimmte Geisteshaltung zugeschrieben; sie sind in der Regel aktiv, pragmatisch, umweltbewusst. «Wenn man das Velo für den Arbeitsweg oder für längere Distanzen in der Freizeit nutzt, war das immer schon mit einer gewissen Ideologie verbunden», sagt Markus Hackenfort, Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Leiter der Fachgruppe Verkehrs-, Sicherheits- und Umweltpsychologie. «Man ist mit Überzeugung Velo gefahren, mit Überzeugung umweltfreundlicher, naturverbundener. Man ist Teil einer homogenen Gruppe.» Vor allem in städtischen Gebieten schweisse diese Mentalität zusammen. Das zeige sich insbesondere dann, wenn Druck von aussen bestehe, etwa bei der politischen Diskussion, welchen Verkehrsteilnehmern wie viel Platz eingeräumt wird.

Verkehrschild mit einem Piktogramm eines E-Bikes, das besagt, dass E-Bikes hier erlaubt sind.Wikimedia

Freie Fahrt für E-Bike-Fahrende: Seit 2017 ist dieses Verkehrsschild auf deutschen Strassen anzutreffen.

Velofahrende haben also einige Grundprinzipien gemein und diese teilen auch die Fans der E-Velos. Elektrovelo-Fahrenden könnten abgesehen davon jedoch unterschiedlicher kaum sein. «Inzwischen ist das ganze Feld so heterogen, dass mir eine Typisierung schwerfällt. Da ist alles dabei: Jüngere, Ältere, Sportlichere, weniger Sportliche, Männer und Frauen, das ist mittlerweile wirklich stark durchmischt», erklärt Hackenfort. Zunehmend finden auch Mountain-E-Bikes und Rennvelos mit Antrieb Absatz. Schon das zeige, dass E-Bikes keinesfalls nur etwas für Ältere seien und prinzipiell auch bei jüngeren Jahrgängen gut ankämen.

Einen erheblichen Gewinn an Lebensqualität verspricht dieser Werbefilm mit dem Kauf eines E-Bikes. Ganz falsch ist das nicht: Gemäss Studie fühlen sich Velofahrer physisch und psychisch gesünder und weniger gestresst als andere Verkehrsteilnehmer.

Daniel Baehler, Projektleiter im Büro für Mobilität in Bern, stimmt ihm zu: «Verschiedene Bevölkerungsgruppen profitieren von E-Bikes. Nicht primär die Jüngsten und die Ältesten, das ist klar.» Dazu muss festgehalten werden, dass das Mindestalter für das Führen von Elektrofahrrädern 14 Jahre beträgt. Kinder dürfen also gar nicht E-Bike fahren. Aber auch Jugendliche sieht man kaum mit E-Bike. Kommt das, weil ihm immer noch das Image des Seniorenvelos anhaftet? «Im Moment ist noch eine gewisse Skepsis da», bestätigt Hackenfort, «aber das wächst sich raus. Auch der Anschaffungspreis ist eine Hürde. Insofern ist da eine deutlich geringere Verbreitung und das schafft natürlich eine soziale Norm: In jugendlichem Alter macht man das nicht.»

In der Altersstufe der 30 bis 40-Jährigen sehe es bereits ganz anders aus. Da herrsche eine andere soziale Norm. Ein E-Velo zu besitzen sei überhaupt kein Problem, sondern im Gegenteil ganz praktisch. Man könne auch gleich einen Anhänger befestigen und die Kinder mitnehmen. Tatsächlich zeigte eine Befragung der Bewohner im städtischen Gebiet von Lausanne: 42 Prozent der Nutzer sind Paare mit Kindern, 70 Prozent sind zwischen 35 und 65 Jahre alt.

Das Pendler-Velo

Unter den E-Bikern sind die meisten also Menschen, die aktiv im Berufsleben stehen. So überrascht es nicht, dass sie ihr elektrisches Zweirad vor allem für den Arbeitsweg einsetzen. Dank ihm können sie auch grössere Distanzen leicht zurückgelegen. E-Velofahrer wohnen tendenziell auf dem Land oder in den Aussenbezirken der Städte – in deren Zentren besitzen die Bewohner eher mechanische Fahrräder, da die Strecken meist kurz sind.

Insgesamt bleibt aber das Auto das bevorzugte Verkehrsmittel: «Im Moment kann man nicht sagen, dass das E-Bike – in seinen verschiedensten Formen – den Automarkt aufmischt», so Baehler. Und dennoch: «In den grossen Städten ist der Anteil autofreier Haushalte gestiegen; in Bern, Basel und Zürich besitzen über die Hälfte der Haushalte kein Auto.»

Urbane Abenteurer

Für sie kommt als Alternative das E-Bike in Frage. Grundsätzlich begrüssen Städte und Gemeinden die Zunahme des Veloverkehrs und sind bemüht, die Infrastruktur dafür zu verbessern. Denn ein Wermutstropfen bleibt: Mit den höheren Verkaufszahlen der E-Bikes gehen überproportional hohe Unfallzahlen einher. 2019 starben 11 Personen bei einem E-Bike-Unfall, 355 verletzten sich schwer. «Häufig hat dabei nicht einmal der Velofahrer Schuld», sagt Hackenfort, «sondern die Erwartung, die der Autofahrer aus Erfahrung an seine mittlere Geschwindigkeit hat. Man sieht aus dem Augenwinkel eine Velofahrerin und schätzt automatisch, dass sie sich mit etwa 10 Kilometern pro Stunde bewegt», sagt er und fährt fort: «Nur ist die Wahrscheinlichkeit immer grösser, dass es kein konventionelles Velo ist, sondern ein E-Bike. Und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit doppelt so hoch ist.»

Plakat mit einem Velobremsstreifen, der über einen Hund geht, der auf dem Boden liegt und den Kopf hebtBFU/Axa

Plakat der Kampagne «Augen auf, Tempo runter» von BFU und Axa, welche die Sicherheit der E-Bike-Fahrenden erhöhen soll.

Dass gerade das städtische Gebiet für Velofahrer ein gefährliches Pflaster ist, muss indes nicht zwingend abschreckend sein, vermutet Hackenfort. «Diejenigen, die viel auf dem Velo unterwegs sind, haben mit Sicherheit alle schon eine kritische Situation erlebt. Ich glaube, da schwingt durchaus mit, dass man sich dabei manchmal mutig fühlt. Möglicherweise gibt es unter den Velofahrern gar nicht so wenige, die sich als Abenteurer sehen.»

Ob die bestehenden Sicherheitsrisiken Velofahrende anziehen oder doch eher abschrecken, sei dahingestellt. Gute Gründe, in die Pedalen zu treten – mit oder ohne Unterstützung –, gibt es auch so genug. Zum Beispiel macht es das Oberstübchen stärker: Es verbessert die neurologische Konnektivität, also die Verbindung von Nervenzellen im Hirn. Und das auch noch nach jahrelangem Velofahren. Ausserdem fühlen sich von allen Verkehrsteilnehmern die Radfahrer psychisch am wohlsten und am wenigsten einsam, wie eine wissenschaftliche Umfrage in sieben europäischen Städten 2018 ergab.

Die Spezies der Velocipedisten, in ihrer ganzen Diversität, ist insgesamt also eine sowohl körperlich als auch geistig fitte und zufriedene Gruppe aus Individuen – und hat damit beste Voraussetzungen für eine florierende Zukunft. Vom Aussterben sind sie noch lange nicht bedroht.

Dieser Text entstand auf Anregung unseres Lesers Marc Böhler, der uns bei unserem diesjährigen Crowdfunding unterstützt hat.
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