Das musst du wissen

  • Die neue Vorlage sieht vor, dass man statt einer Zustimmung, einen Widerspruch zur Organspende festhalten muss.
  • Ist kein Wille dokumentiert, fungiert die Familie als Schutzschild und kann eine Entnahme stoppen.
  • Um sicher zu gehen, dass die eigenen Wünsche respektiert werden, muss die Familie diese also unbedingt kennen. 

Herr Shaw, bei der vorgeschlagenen Widerspruchslösung gibt es Bedenken, dass dadurch Organe ohne die Zustimmung der betroffenen Personen entnommen werden könnten. Was sagen Sie als Ethiker dazu?

Auch ich sehe den wichtigsten ethischen Einwand darin, dass jemandem Organe entnommen werden könnten, der dies nicht wollte. Ethisch ist das neue System also potenziell riskanter, denn früher musste man zustimmen, jetzt muss man sich abmelden. Wenn man aber nicht weiss, dass sich das System geändert hat, wird man sich auch nicht abmelden, und die Organe könnten theoretisch auch gegen den Willen entnommen werden. Das Schweizer System hat aber stärkere Sicherheitsvorkehrungen als viele andere Länder: Die Familie ist quasi die zweite Absicherung und kann den Eingriff verhindern. Für mich ist diese Absicherung aber fast schon zu gross.

David Shaw

David Shaw forscht am Institut für Bio- und Medizinethik der Universität Basel. Zu seinen Hauptschwerpunkten gehören die Ethik der Organspende und die Forschungsethik, also die wissenschaftliche Integrität.

Wieso das?

Eines der Hauptprobleme bei der Organspende ist in der Regel die Abweichung zwischen dem Wunsch des Einzelnen und dem Wunsch der Familie. Und in der Schweiz hat die Familie sehr viel Macht. Es braucht also nur ein Familienmitglied, das behauptet, dass der oder die Betroffene das nicht wollte und die Organe werden nicht entnommen. Das ist ein Problem mit dem neuen vorgeschlagenen System, genauso wie mit dem alten System. Es kann dazu führen, dass der Wunsch einer Person, mit ihrem Organ ein Leben zu retten, wenn sie stirbt, nicht respektiert wird.

Bei einer Organspende geht es nicht nur darum, die Spende zu ermöglichen. Sondern auch darum, sicherzustellen, dass die Organe in einem guten Zustand sind, wenn sie die nächste Person erreichen.

Eines der Gegenargumente ist nun aber gerade, dass die Angehörigen unter Druck gesetzt werden und sich dazu verpflichtet fühlen, ihr Einverständnis zu geben.

Ich glaube nicht, dass sie unter Druck gesetzt werden. Und wenn, dann denke ich, ist eher das Gegenteil der Fall. Das zumindest zeigen die Daten aus anderen Ländern, und zwar, dass die Widerspruchsraten steigen. Familien, die sich nicht sicher sind, weigern sich eher, als dass sie unter Druck zustimmen.

Was man auch immer wieder hört ist, dass als hirntot erklärte Menschen noch viele Lebenszeichen zeigen, so dass die Organentnahme ins Sterben eingreife.

Bei einer Organspende geht es nicht nur darum, die Spende zu ermöglichen. Sondern auch darum, sicherzustellen, dass die Organe in einem guten Zustand sind, wenn sie die nächste Person erreichen. Wichtig ist aber, dass sie den Tod nicht beschleunigt, das wäre problematisch. Wenn nun aber bei einer Person der Hirntod diagnostiziert wurde, ist zwar die biologische Einheit nicht tot, wohl aber die geistige. Wer hier also Bedenken hat, kann sich Folgendes fragen: Kann ich mir ein Leben ohne Bewusstsein, ohne Gehirn vorstellen? Für mich ergibt das keinen Sinn. Umgekehrt kann ich mir aber vorstellen aufzuwachen, wenn mein Bewusstsein in einem Roboterkörper oder etwas Ähnlichem steckt.

Sie haben es vorhin kurz angesprochen: Es müssen alle im Land über die Änderung informiert werden, sollte sie kommen. Eine ziemliche Herkulesaufgabe.

Auf jeden Fall. Ich weiss nicht genau, wie die Schweiz dabei vorgehen würde, kenne aber das Beispiel aus Wales, als sie von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung wechselten. Dort wurden im Rahmen der Aufklärungskampagne zweimal Broschüren mit Informationen an jeden Haushalt geschickt. Zwei Jahre danach stellte man in einer Umfrage fest, dass etwa zwanzig Prozent der Menschen nicht in der Lage waren zu beschreiben, was sich am System geändert hatte. Das legt nahe, dass sie das derzeitige System nicht wirklich verstanden haben.

2018 haben auch nur wenige in der Schweiz mitbekommen, dass es plötzlich ein Organspenderegister gab.

Das stimmt, ich habe gelesen, dass nur etwa zwei Prozent der Menschen in der Schweiz ihre Zustimmung zur Organspende eingetragen haben, obwohl sie vielleicht einen separaten Spenderausweis haben. Ich glaube aber, dass es mit der neuen Regelung für die Leute einfacher wird, vorausgesetzt, man informiert alle. Dies, weil die Mehrheit der Bevölkerung Umfragen zufolge ihre Organe spenden will – sie sich aber anscheinend nicht die Mühe macht, ihre Zustimmung zu registrieren.

Mit dem neuen System zwingt man die Leute aber auch, über Organspenden und damit den eigenen Tod nachzudenken – ein Tabuthema in unserer Gesellschaft.

Ich finde es gut, die Menschen dazu zu bringen, über das Thema zu sprechen. Das ist eigentlich das wichtigste, was ich persönlich während meiner Forschung gelernt habe: Man muss mit seiner Familie und seinen Freunden darüber reden. Und das ist in gewisser Weise das Paradoxe daran: Wenn man mit jemandem darüber spricht, dann sind es oft eher die Freunde als die Eltern oder die Brüder und Schwestern. Aber in der Hierarchie, mit wem das Krankenhauspersonal spricht, kommt immer die Familie zuerst. Doch manchmal sind es die Freunde, die wissen, dass man nicht – oder eben doch – als Organspender in Frage kommt. Ich plädiere sogar dafür, ein kurzes Video zu machen, im dem man erklärt, warum man Organe spenden will. Das ist natürlich ein wenig seltsam, aber es bleibt im Gedächtnis haften. Das genau ist das fehlende Glied zwischen der persönlichen Entscheidung und der Respektierung dieses Wunsches. Das sind die beiden Dinge, die ich allen ans Herz lege: Besprecht es mit eurer Familie und euren Freunden und tragt euren Willen trotzdem ein, denn das erhöht die Chancen, dass eure Wünsche respektiert werden.

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