Das musst du wissen

  • Seit Jahrzehnten weisen Forscherinnen auf biologische Unterschiede im Immunsystem von Mann und Frau hin.
  • In der Entwicklung von Medikamenten und Impfungen werden diese Unterschiede meist ausgeklammert.
  • Covid-19 trifft Frauen und Männer unterschiedlich und macht die Rolle von Hormonen fürs Immunsystem sichtbar.
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Frauen könnten Schmerzen besser ertragen, heisst es im Volksmund. Das ist alles andere als wissenschaftlich bewiesen. Klar ist aber: Frauen werden Schmerzen eher zugemutet. Wenn es um Medikamente geht, sind Patientinnen unerwünschten Nebenwirkungen wie Kopfweh oder Gliederschmerzen eher ausgesetzt. Das ist auch bei den Covid-19-Impfungen, die gegenwärtig in der Schweiz zu haben sind, nicht anders: Mehr als zwei Drittel der Nebenwirkungen, die bei Swissmedic bisher gemeldet wurden, erlitten Frauen.

Genau umgekehrt sieht es bei Covid-19 aus: Obwohl sich in manchen Ländern, wie auch in der Schweiz, sogar mehr Frauen mit dem Virus Sars-CoV-2 anzustecken scheinen, ist die Sterberate bei Männern 1,7 Mal höher als bei Frauen – und das über alle Altersklassen hinweg.

Um diese beiden Phänomene zu erklären, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist jene, die seit Jahrzehnten angewandt wird. Sie besteht darin, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern allein statistischen Verzerrungen zuzuschieben. Verzerrungen, die tatsächlich existieren. So ist es in vielen Kulturen akzeptierter, wenn Frauen über Schmerzen klagen – nicht aber wenn Männer dies tun. Das kann dazu führen, dass Patientinnen Nebenwirkungen eher melden als Patienten. Und bei Covid-19 spielen gesundheitliche Bedingungen wie Herzkreislauferkrankungen und Begleiterscheinungen wie zum Beispiel das Rauchen eine grosse Rolle, wenn es um schwere Verläufe geht. Männer bringen solche schlechten Bedingungen häufiger mit als Frauen. Nur: Die Verzerrungen erklären die Unterschiede nicht hinlänglich. Und: Es gibt wissenschaftliche Evidenz für eine weitere Erklärung.

Diese liegt in der Biologie der Geschlechter. «Es gibt nichts Unterschiedlicheres als das Immunsystem von Männern und Frauen», spitzt Ute Seeland zu, Expertin für geschlechtersensible Medizin an der Charité Berlin. «Das weibliche Immunsystem zeigt eine stärkere Antikörper-Reaktion, reagiert auf Virus-Erkrankungen – und Impfungen – also vehementer als das männliche», erklärt Seeland, die im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin ist. «Es ist aber auch in der Lage, sich wieder zu normalisieren.» Im Gegensatz dazu reagiere das männliche Immunsystem zögerlicher. Gerät es aber ausser Kontrolle, lässt es sich nur schwer wieder herunterfahren – das kann bei einem Zytokin-Sturm enden, also einer Überreaktion des Immunsystems, bei der körpereigene Zellen angegriffen werden. Gerade bei Covid-19 ist eine solcher Sturm Grund für schwere Verläufe.

Die Crux der Krankheit könnte also in den unterschiedlichen Funktionsweisen der Immunsysteme liegen – und diese Unterschiede zu erforschen, könnte neue Therapien bringen. Die Medizin tut sich allerdings noch grösstenteils schwer damit, sich diesem Thema, im speziellen der Biologie des weiblichen Körpers, zuzuwenden. Bisher wurde dies an die «Gendermedizin» ausgelagert. Und das heisst: An die Frauen selber. Denn in diesem sehr kleinen Bereich der Forschung sind fast nur Wissenschaftlerinnen anzutreffen.

Gendermedizin in der Schweiz

Die Universitäten Bern und Zürich starten diesen Frühling eine Weiterbildung zu Gendermedizin. Der «CAS in Sex- and Gender-Specific Medicine» soll dazu beitragen, Geschlechterunterschiede bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Der Studiengang ist in dieser Form europaweit einzigartig. Auch in Sachen Forschung ist die Schweiz mit vorne dabei: So untersucht die Forscherin Catherine Gebhard an der Klinik für Nuklearmedizin am Universitätsspital Zürich derzeit den Einfluss von «Sex» und «Gender» auf den Verlauf von Covid-19. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützt das Projekt «Impact of Sex and Gender on COVID-19 outcomes: Role of ACE-2, TMPRSS2, and gender-specific risk factors», das Gebhard unter anderen zusammen mit Beatrice Beck Schimmer, Direktorin Universitäre Medizin der Universität Zürich sowie Vera Regitz-Zagrosek, die von 2008 bis 2019 Gründungsdirektorin des Berlin Institute for Gender in Medicine an der Charité Universitätsmedizin Berlin war, eingereicht hat. All diese Forscherinnen sind auch Initiantinnen des neuen CAS.
Sabra Klein von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health.zVg

Sabra Klein von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health.

«Obwohl ich die Besonderheiten des weiblichen Immunsystems im Bezug auf Impfstoffe seit Jahrzehnten erforsche», erzählt Sabra Klein, Professorin für Molekularbiologie, Immunologie und Gendermedizin an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, «wurden die Ergebnisse von Industrie, Regierungen und Presse kaum je thematisiert.» Dabei haben die Unterschiede der Immunsysteme gravierende Folgen. «Frauen entwickeln zum Beispiel mehr Entzündungen und mehr allergische Reaktionen», sagt Sabra Klein. Von den meisten Auto-Immun-Erkrankungen sind denn auch über achtzig Prozent der Betroffenen Frauen. Im Gegenzug kommen viele nicht-reproduktive Krebsarten häufiger bei Männern vor und die Anzahl verbleibender Lebensjahre ist bei Männern geringer.

Die Liste der Krankheiten, die Frauen und Männer unterschiedlich treffen, ist lang. Die Liste der Medikamente, die negative Effekte auslösen hingegen, ist auf Seite der Frauen beträchtlich länger als bei Männern. Denn: Die Medizin hat den männlichen Körper als idealtypisches Modell auserkoren. In vielen klinischen Studien sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert – trotz gegenteiliger Bestrebungen verschiedener Institutionen. Auch in der Grundlagenforschung ist das weibliche Geschlecht stark ausgeklammert: Zu neunzig Prozent wird an männlichen Tieren geforscht und nur fünf Prozent der Studien, die Angaben zum Geschlecht machen, nutzen weibliche Zellen. Das heisst: Die Forschung forscht oft für den Mann.

Bei den Impfstoff-Studien von Biontech/Pfizer waren zwar 49 Prozent der Probanden weiblich, bei Moderna rund 47 Prozent. Aber: «Es waren nur Frauen einbezogen, welche bereits in der Menopause standen oder verhüteten», erklärt die Molekularbiologin Klein. Die Verhütung konnte mittels Pille, aber auch mittels Kondomen stattfinden. Die Schwankungen im Hormonzyklus können die Wirkung von Impfungen aber beeinflussen, wie die Forscherin Ute Seeland sagt: «Die Wirkung eines Medikaments kann sich mit den Hormonschwankungen während des Zyklus verändern – das wird in der Medizin bisher weitgehend ignoriert».

Das Ziel ist von Seiten der Entwickler, auszuschliessen, dass die Probandinnen schwanger werden und potentielle Schäden am Kind entstehen. Seit dem Contergan-Skandal in den 1960er-Jahren, als ein Beruhigungsmittel zu fehlgebildeten Kindern führte, ist dies das Worst-Case-Szenario jeder klinischen Studie. Ethisch sind Impfstoffstudien selbst an Schwangeren vertretbar, wie die WHO in einem Bericht 2018 schrieb. Die beiden Impfstoffhersteller Pfizer/Biontech und Moderna haben denn auch Folgestudien für Schwangere angekündigt.

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Im Zusammenhang mit Medikamenten und Impfungen erleben Frauen mehr Beschwerden. So waren zum Beispiel acht von zehn Arzneien, die in den USA zwischen 1997 und 2000 zurückgezogen wurden, gefährlicher für Frauen als für Männer. Nebenwirkungen treten bei Frauen bis zu doppelt so häufig auf wie bei Männern.

Werden Unterschiede zwischen Männern und Frauen ausgeblendet, entgehen den Patientinnen und Patienten so potentielle Therapiemöglichkeiten. Wie im Fall von Covid-19. Nur wenige Forschende sind bisher der Frage nachgegangen, weshalb Frauen eine so viel geringer Sterblichkeitsrate aufweisen. Jene, die es getan haben, vermuten, dass Hormone eine grosse Rolle spielen könnten. Denn: Ab 55 Jahren, also wenn die Menopause einsetzt, nähert sich die Mortalitätsrate der Frauen jener der Männer an. Eine Studie, die noch nicht einer Review von Fachkolleginnen unterzogen wurde, kam jüngst zum Schluss: Nahmen die Frauen ab 55 im Rahmen einer Therapie Hormone, reduzierte das ihre Sterblichkeit signifikant. Zu dem gleichen Resultat kam bereits im November auch die Forscherin Ute Seeland mit ihrem Team.

Ute SeelandzVg

Ute Seeland von der Charité Berlin.

«Östrogen ist für das Immunsystem extrem wichtig», sagt Ute Seeland. Könnten Hormone also eingesetzt werden, um einen schlimmen Krankheitsverlauf zu verhindern? «Hormontherapie ist ein etabliertes Verfahren, das – zu Unrecht – vor einigen Jahren in Verruf geraten ist», sagt Seeland. Vor einigen Jahren ergab eine Studie, dass Frauen, die in der Menopause Östrogen bekamen, häufiger Brustkrebs entwickelten. «Dann hat man der Forschung mit Östrogen die Reissleine gezogen», sagt Seeland. Später deuteten kleinere Studien aber darauf hin, dass das Timing ein Grund für die nachteiligen Effekte war: «Die Frauen bekamen die Therapie erst durchschnittlich zehn Jahre nach Einsetzen der Menopause». Neuere Studien zeigen, dass Östrogen das Risiko für Brustkrebs im Rahmen einer Hormonersatztherapie bei Einsetzen der Menopause nicht erhöht, wenn es nicht länger als fünf Jahre eingenommen wird.

Tatsächlich haben amerikanische Forscherinnen bisher zwei Studien gestartet, um die Wirkung von Hormonen im Kampf gegen Covid-19 zu testen – und zwar an Männern. Eine Pilotstudie des Medizinzentrums Cedars-Sinai mit vierzig hospitalisierten Patienten testete die Wirkung von Progesteron-Shots über fünf Tage hinweg. Die Resultate waren ermutigend: Im Schnitt ging es den mit Hormonen behandelten Männern nach sieben Tagen besser als jenen mit klassischer Behandlung.

Science-Check ✓

Studie: Progesterone in Addition to Standard of Care Versus Standard of Care Alone in the Treatment of Men Hospitalized with Moderate to Severe COVID-19: A Randomized, Controlled Pilot TrialKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Anzahl Probanden war sehr klein. Es braucht also weitere Forschung, welche die Resultate bestätigt.Mehr Infos zu dieser Studie...

Eine weitere Studie, die noch nicht abgeschlossen ist, untersucht die Wirkung von Östrogen-Klebern auf Covid-19-Erkrankte und schliesst 110 Probandinnen und Probanden ein. «Wir werden dadurch nicht verstehen, wie Östrogen im Körper genau wirkt, wie werden aber sehen, wie es dem Patienten geht», sagte die Studienleiterin Sharon Nachman gegenüber der New York Times.

Die Wirkung von Hormonen ist einer von zwei Faktoren, die von Medizinerinnen für die Unterschiede im weiblichen Immunsystem herangezogen werden. Östrogen zum Beispiel verbessert die Anzahl, Programmierung und Lebensspanne der Immunzellen. Ausserdem reguliert es die Produktion von Zytokinen durch die Immunzellen. Zudem könnte Östrogen die Produktion von ACE2-Rezeptoren hemmen – diese sind quasi die Türöffner in den Zellen, durch die Sars-CoV-2 eindringt. Männer haben mehr von diesen Türöffnern als Frauen.

Die zweite Erklärung für das andersartige Immunsystem der Frauen liegt in ihren Genen. Viele für die Immunfunktion wichtige Gene liegen auf dem X-Chromosom. Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer nur eines. Eigentlich sollte auch in Frauen nur jeweils ein X-Chromosom abgelesen werden. Es gibt aber die Theorie, dass bei Frauen manche Gene dieser Doppelungssperre entkommen – und doppelt abgelesen werden. Dies würde bewirken, dass gewisse Proteine doppelt produziert würden. «Dann wären die Zellen von Frauen und Männern unterschiedlich», sagt Ute Seeland.

«Durch Covid-19 sind die Geschlechterunterschiede im Immunsystem mehr ins Rampenlicht gerückt», sagt Immunologin Sabra Klein. «Bei der gegenwärtigen Covid-19-Impfung wurden die Unterschiede wie üblich zwar nicht einbezogen», sagt sie, «in Zukunft sollte man die Dosen aber anpassen.» Schon heute würden unterschiedliche Dosen an unter Zweijährige und über 65-Jährige verteilt. Die Dosen auch an die Geschlechter anzupassen sollte also machbar sein. Das bedeutet Aufwand – aber dafür weniger Schmerzen für das weibliche Geschlecht.

Korrigendum: In einer früheren Version dieses Textes stand die Aussage der Forscherin Klein, die Studien für die Covid-19-Impfungen hätten nur Frauen einbezogen, welche in der Menopause standen oder hormonell verhüteten. Diese Aussage ist falsch. Es wurden nur Frauen einbezogen, welche in der Menopause standen oder verhüteten, dies musste aber nicht hormonell geschehen.

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