Das musst du wissen

  • Der Pharma-Riese Novartis war bis 2015 selber an der Forschung an RNA-Impfstoffen beteiligt.
  • Die Sparte wurde aber abgestossen, denn für Pharmafirmen waren vergangene Pandemien stets ein Risiko.
  • Während der Corona-Pandemie war es die amerikanische Operation Warp Speed, die die Impfstoffherstellung beschleunigte.

Aus heutiger Sicht wirkt folgende Geschichte wie ein Déja-vu: An einem Wochenende im März 2013 erhielt Andrew Geall, damals Leiter der RNA-Impfstoffforschung bei Novartis in Cambridge, Massachusetts, einen dringenden Anruf. Sein Chef, Rino Rappuoli, teilte ihm mit, dass sich in China gerade drei Menschen mit einem neuen Stamm der Vogelgrippe infiziert hätten. Er fragt, ob seine Gruppe schnell einen Impfstoff entwickeln kann.

Andrew Geall versteht sofort. Er weiss sehr wohl, dass solche Grippemutationen bei Vögeln und die Übertragung auf Menschen von der Weltgesundheitsorganisation WHO als grösstes Risiko für den Ausbruch einer Pandemie angesehen werden. Er macht sich sofort an die Arbeit.

Seine Gruppe hat bereits einen RNA-Impfstoff gegen ein Alphavirus der Atemwege entwickelt. Dieser war erfolgreich an Ratten getestet worden.

Nachdem Gealls Team von etwa sechzig Personen also die genetische Sequenz des neuen Vogelgrippestamms erhalten hatte, machte es sich an die Arbeit. «Drei Tage später synthetisierten wir die ersten RNAs, Ende der Woche testeten wir bereits die ersten Impfstoffkandidaten in Zellen und eine Woche später in Mäusen», sagt Geall. Somit war es Novartis innert eines Monats gelungen, einen Impfstoffkandidaten zu entwickeln.

3 Männer stehen vor einer Nashorn-StatuezVg

Andrew Geall (links) und das RNA-Impfstoffteam von Novartis im Jahr 2012.

Die Pharmaindustrie gerät ins Hintertreffen

In der gegenwärtigen Pandemie ist das erstaunlichste Merkmal der RNA-Impfstoffe gegen Covid-19 die Geschwindigkeit, mit der sie entwickelt wurden. Der Erfolg von Novartis im Jahr 2013 wirft jedoch die Frage auf: Warum spielt der Schweizer Riese bezüglich RNA-Impfstoffen gegen Covid-19 nur noch eine untergeordnete Rolle? Novartis füllt lediglich die Fläschchen mit den Covid-Impfstoffen seiner Konkurrenten ab. Und wenn wir tiefer graben: Warum sind führende Impfstoffhersteller wie Sanofi (weltweit Nummer 3), Merck (Nummer 2) oder GlaxoSmithKline (Nummer 1) ebenfalls nicht dabei oder in den hinteren Rängen? Führend sind vielmehr Unternehmen, die der Öffentlichkeit vor einigen Monaten noch unbekannt waren. Unternehmen, die die Etablierten überholten.

Novartis’ Erfahrungen mit der Vogelgrippe im Jahr 2013 erklären es teilweise. Denn: Der RNA-Impfstoff von Andrew Geall wird nie in klinischen Versuchen am Menschen getestet werden. Denn, wie der Forscher erklärt: «Die Epidemie ist glücklicherweise schnell wieder abgeklungen.» Und dann beschliesst Novartis, das seine Position im Bereich Impfstoffe durch den Kauf von Chiron im Jahr 2006 gestärkt hatte, diesen Geschäftsbereich zu verkaufen, um sich auf rentablere Therapien zu konzentrieren.

Doch der Verkauf entpuppt sich als komplex. Das US-Kartellrecht hindert den Schweizer Konzern daran, sein Grippeimpfstoffgeschäft an seinen Konkurrenten GlaxoSmithKline (GSK) zu verkaufen. Es wird deshalb 2015 von der australischen Gruppe CSL übernommen. Novartis richtet die Aktivitäten seines Labors in North Carolina neu aus und das führt zur Auflösung des RNA-Impfstoff-Forschungsteams. Dessen Mitglieder sind heute bei führenden RNA-Herstellern wie Moderna oder Pfizer (im Fall von Phil Dormitzer) zu finden. Bis dahin verfügte Pfizer nur über zwei Impfstoffe. Diese Wechsel und die Zusammenarbeit mit Biontech, die 2018 wegen Influenza begann und mit Covid fortgesetzt wurde, trugen sicher dazu bei, die Ziellinie als Erste zu erreichen.

Moncef Slaoui spricht in einer Podiumsdiskussion oder ähnlichemflickr/Brainstorm Health/Stuart Isett

Moncef Slaoui im Jahr 2016. (CC BY-NC-ND 2.0)

Doch Moncef Slaoui, langjähriger Leiter der Impfstoffforschung bei GSK, bietet eine andere Erklärung an: «Die grossen Impfstoffhersteller haben alle unter früheren Pandemien gelitten», sagt er. «In den Jahren 2008 und 2009 mussten wir uns bei GSK im Zusammenhang mit H1N1 gegen den Vorwurf verteidigen, die Epidemie geschaffen zu haben, um davon zu profitieren.» Und die Erfahrungen wurden nicht besser: «Bei Ebola 2014 haben wir sieben Monate lang rund um die Uhr gearbeitet und dann stoppte die Epidemie. Das Gleiche gilt für Zika im Jahr 2016. Das sind Investitionen, die nie zurückgezahlt werden, hinzu kommen Opportunitätskosten.»

Warp Speed prescht vor

Moncef Slaoui, der 2017 in den Vorstand von Moderna berufen wurde, um die Forschung und Entwicklung zu leiten, fügt ein spezifisches Element für RNA-Impfstoffe hinzu, das deren Entwicklung unattraktiv macht: «Historisch gesehen ist es fast unmöglich, eine neue Impfstofftechnologie einzuführen. Ausser in Zeiten eines pandemischen Notfalls.» Er weiss, wovon er spricht. Im Mai 2020 wurde der Immunologe zum Rennleiter im Wettlauf um den Impfstoff gegen Covid-19, indem er neben General Gustave Perna die Co-Leitung der Operation Warp Speed der US-Regierung übernahm. Dies war eine öffentlich-private Partnerschaft, die die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln beschleunigen sollte.

Natürlich gibt es auch hier russische, chinesische und indische Konkurrenten, deren Geschichten auch erzählt werden könnten, wenn solche Informationen wegen der Reisebeschränkungen in Zeiten von Covid-19 nicht so schwer zu bekommen wären. Laut der globalen Zählung der Vaccine Alliance (Gavi), sind bereits Mitte April 2021 nicht weniger als 184 Covid-Impfstoffe in Tierversuchen, 84 beim Menschen und 13 zugelassene Impfstoffe im Rennen. Doch es sind die von Warp Speed ausgewählten RNA-Impfstoffe, die das Rennen gemacht haben. Und sie haben die höchste Wirksamkeit und sind derzeit am weitesten verbreitet.

Inzwischen wurde Moncef Slaoui von einem Belästigungsvorwurf aus seiner Zeit bei GlaxoSmithKline eingeholt und musste mehrere seiner Mandate niederlegen, darunter das des Beraters des Genfer Investmentfonds Medicxi. Dieses Interview fand vor dem Skandal statt und konzentrierte sich auf sein unbestrittenes Können in den Bereichen Immunologie und Molekularbiologie. Hier berichtet er über den Wettlauf um den Impfstoff.

«Es begann mit einem Telefonanruf von Jim Greenwood», sagt er. Der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete leitete die US-amerikanische Biotech-Lobby, BIO. Er bot ihm die Leitung von Warp Speed an. «Ich habe ihm gesagt, dass ich nur akzeptieren kann, wenn ich völlig freie Hand habe und sich die Politik nicht einmischt. Er antwortete: ‹Die Regierung wird Sie anrufen›.»

Moncef Slaoui, der gegen Trumps Politik ist, fordert diesen Blankoscheck aus gutem Grund. Sein Vorgänger, Rick Bright, der Direktor der Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA), wurde versetzt, nachdem er die Vetternwirtschaft der Trump-Administration angeprangert hatte. Wichtig ist Slaoui die wissenschaftliche Freiheit aber auch, weil er sein Leben der Bekämpfung von Epidemien gewidmet hat. «In einer Pandemie hat man keine Zeit für Hinterzimmergespräche und giftige Tweets.»

Als er am 15. Mai 2020 diese Funktion übernimmt, gibt es weltweit 94 Impfstoffprojekte, von denen sich fünf oder sechs in frühen klinischen Studien befinden. «Es war unmöglich, sie alle zu untersuchen. Wir haben acht Projekte aus vier Technologiepipelines ausgewählt, und zwar nach den Kriterien potenzielle Wirksamkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und die Möglichkeit, es in grossem Massstab produzieren zu können.» Das Auswählen dauerte nur vier Tage.

Vier konkurrierende Technologien

Bei der Auswahl werden konventionelle Impfstoffe von vornherein als «langsamer und auch gefährlicher» ausgeschlossen. Denn: «Für diese konventionellen Impfstoffe müssen zunächst Lebendviren kultiviert werden», so Moncef Slaoui weiter. «Deshalb müssen wir sicherstellen, dass kein Risiko für eine Kontamination oder einen möglichen Austritt in die Umwelt besteht. Bei abgeschwächten Viren, dem anderen Weg für klassische Impfstoffe, besteht die Schwierigkeit darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen einer ausreichenden Replikation des Virus, um eine starke Immunreaktion zu erzielen, aber nicht zu viel, da es sonst pathogen wird. Das dauert sehr lange.»

Bei den vier zuerst ausgewählten Technologieplattformen handelt es sich um die DNA-Impfstoffe von Oxford-Astrazeneca und Johnson & Johnson. «An dem Tag, an dem ich mein Amt antrat, ging bei Astrazeneca eine erste Bestellung über 300 Millionen Dosen ein», sagt er. In der zweiten ausgewählten Kategorie sind es rekombinante Proteinimpfstoffe, die bereits für Impfstoffe gegen Hepatitis B oder Papillomaviren verwendet werden. Hier wurden Kandidaten von Novavax und der Sanofi-GSK-Allianz ausgewählt. Er erbte auch eine Zusammenarbeit mit der Merck-Gruppe und der International AIDS Vaccine Initiative (IAVI). Diese arbeiteten an zwei Projekten mit abgeschwächten Impfstoffen. Diese basieren nicht auf dem Covid-Virus, sondern auf dem Virus der vesikulären Stomatitis, das seine Wirksamkeit gegen Ebola bereits bewiesen hatte, und auf einem Masernvirus. Darüber hinaus gab es zwei mRNA-Impfstoffe von Moderna und Pfizer-Biontech.

Zehn Milliarden für Warp Speed

Die ursprünglich als Manhattan-Projekt 2 bezeichnete Operation Warp Speed wurde Ende März 2020 als öffentlich-private Partnerschaft ins Leben gerufen, um die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln zu beschleunigen. Es wurde mit einem ursprünglichen Budget von zehn Milliarden Dollar ausgestattet. Dadurch entstand das Risiko eines Interessenkonflikts. Moncef Slaoui wird denn auch verdächtigt, da er Mitglied des Verwaltungsrats von Moderna ist. Er verkaufte zwar seine Aktien, als er sein Amt antrat, aber zu einem sehr guten Preis.

In einem Konferenzraum des Weissen Hauses sitzt Donald Trump mit mehreren Experten.Moderna

Das Treffen am 2. März 2020 mit den Chefs der Pharmaindustrie.

Moncef Slaoui selber sieht die Zusammenarbeit mit Moderna aber als Vorteil an: «2019 erhielt Moderna die Ergebnisse der Phase-II-Studie eines RNA-Impfstoffs gegen das Cytomegalovirus. Es zeigte sich, dass geimpfte Personen mehr Antikörper gegen die Krankheit entwickelten als natürlich infizierte Personen. Das hat unser Vertrauen in das Potenzial der RNA-Technologie sehr bestärkt.» Melissa Moore, Chief Scientific Officer von Moderna, bekräftigt dies: «Wir waren so zuversichtlich, dass wir aufgrund der genetischen Sequenz des Virus nur auf eine mRNA gesetzt haben, die das Spike-Protein des Virus kodiert.»

Als die Operation Warp Speed in Gang kommt, hat der Wettlauf längst begonnen. Sobald die Coronavirus-DNA-Sequenz am 12. Januar von chinesischen Forschern kommuniziert worden war, hatten die verschiedenen Gruppen, die Impfstoffe entwickeln, sofort mit der Entwicklung von Kandidaten begonnen. Im Mai 2020 befinden sich mehrere davon bereits in der Phase I der klinischen Prüfung.

800 bis 900 Millionen Dollar pro Versuch

Bei Biontech testet Uğur Şahin seit Mitte April vier verschiedene Versionen von RNA-Impfstoffen. Der deutsche Konkurrent Curevac wird derweil durch die Suche nach der idealen Dosis aufgehalten. Ein früherer Versuch gegen Tollwut hatte in der Tat ein Toxizitätsrisiko ergeben, das mit der Dosis zusammenhing. Am weitesten fortgeschritten ist Moderna, wo am 16. März, 63 Tage nach der Veröffentlichung der genetischen Sequenz des Coronavirus, eine Phase-I-Studie beginnt. Mitte Mai befindet sich Astrazeneca ebenfalls in Phase I, während Johnson & Johnson, Merck, Sanofi und Novavax noch bei Tierversuchen sind.

Diese Phase-I-Versuche wurden von den Unternehmen und öffentlichen Geldern finanziert. Die Rolle der Operation Warp Speed besteht zunächst in der Finanzierung des teuersten und schwierigsten Teils der Versuche, der Phase 3, mit Gruppen von etwa 30 000 Personen und Hunderten von klinischen Zentren. «Das sind Kosten in der Grössenordnung von 800 bis 900 Millionen Dollar pro Versuch», sagt Moncef Slaoui.

Die Spielregeln

Bevor sie dieses Manna verteilten, einigten sich Moncef Slaoui und General Perna auf eine einfache Organisationsstruktur für Warp Speed. Ersterer wäre für die Forschung und Entwicklung zuständig, letzterer für die Logistik. Der Ausschuss setzte sich zusammen aus dem US-Gesundheitsminister Alex Azar, dem Verteidigungsminister (der dreimal wechseln wird), Anthony Fauci (der nicht vorgestellt werden muss), dem NIH-Direktor Francis Collins und dem CDC-Direktor Robert Redfield sowie auf Seiten des Weissen Hauses der Ärztin Deborah Birx und dem Schwiegersohn von Präsident Trump, Jared Kushner, der die Aufsicht führen wird. «Eine lockere Aufsicht», so Moncef Slaoui, «denn dieses Gremium trat nur alle 15 Tage zusammen.»

Für den täglichen Betrieb und rasche Entscheidungen stellte Moncef Slaoui ein Team zusammen, das sich hauptsächlich aus Wissenschaftlern der BARDA zusammensetzte, darunter anfangs auch der Direktor der FDA. Der Ausschuss war jedoch der Ansicht, dass er in dieser Doppelfunktion befangen sein würde, und er wurde durch Matt Hepburn, einem Epidemiespezialisten der DARPA, ersetzt. «Um schnell handeln zu können, mussten wir unbürokratisch vorgehen, ohne einen Ausschuss unabhängiger Experten, der fünf Lösungen abwägt», so Moncef Slaoui weiter. Bei einem Wettlauf braucht man allerdings Spielregeln. Dabei geht es vor allem um die Festlegung eines klinischen Protokolls, das Vergleiche ermöglicht.

«Um einheitliche Ergebnisse zu erzielen, haben wir uns zunächst darauf geeinigt, was ein Covid-Fall ist», fährt Moncef Slaoui fort. «Dann haben wir sechs zwingende Kriterien für eine Finanzierung festgelegt.» So erhielt Merck 38 Millionen Dollar, Johnson 6 Johnson eine Milliarde Dollar, Astrazeneca 1,2 Milliarden Dollar, Moderna 1,53 Milliarden Dollar, Novavax 1,6 Milliarden Dollar, Sanofi und GSK 2,1 Milliarden Dollar.

Pfizer und Biontech werden ihre klinischen Studien selbst finanzieren und lediglich für die Auswahl der klinischen Zentren Unterstützung erhalten. «Da es unmöglich war, vorherzusagen, wo sich die Epidemie am stärksten entwickeln würde und die schnellsten Ergebnisse erzielt werden können, mussten wir für jede Studie eine aussergewöhnliche Anzahl von hundert bis 200 Zentren rekrutieren und das gesamte Territorium abdecken», erklärt Moncef Slaoui.

Die Stolpersteine

Im Frühjahr 2020 wird eine Auswahl unter den Nachzüglern getroffen, die sich noch in der präklinischen Phase befinden. «Bei den DNA-Impfstoffen besteht das Hauptrisiko in den viralen Vektoren», erklärt Moncef Slaoui. «Da die Vektoren von Johnson & Johnson und Oxford Astrazeneca bereits für andere Impfstoffe getestet waren, konnten sie relativ schnell beginnen.» Johnson & Johnson wird seine für September geplante Phase-I-Studie auf Juli vorverlegen. Und Astrazeneca wird seine Phase III am 31. August beginnen, mit nur drei Wochen Vorlauf vor Johnson & Johnson.

Bei anderen Technologien läuft es weit weniger gut. Bei den rekombinanten Proteinen wird Novavax, das seine Phase-I-Studie am 25. Mai begonnen hat, seine Phase III erst Ende September starten. «Der Ansatz war bekannt, aber da diese Proteine aus einem Teil des Coronavirus-Proteins S hergestellt werden müssen, stellen ihre Reinigung und Stabilisierung eine grosse Herausforderung dar», erklärt Moncef Slaoui.

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Sanofi und GSK werden den Preis dafür zahlen. Auf der Grundlage von Fliegen-Zelllinien haben sie mit dieser Technologie zunächst nicht nur Teile des S-Proteins, sondern auch eines sehr ähnlichen Proteins hergestellt, was die Reinigung erschwerte. Das führte dazu, dass am Ende Chargen entstanden, die fünfzig bis siebzig Prozent Verunreinigungen enthielten. Daher konnte die Phase-I-Studie erst im September beginnen. Weitere Verzögerungen wurden im Dezember 2020 bekannt gegeben, diesmal aufgrund eines Dosierungsfehlers. Die Phase II begann erst im Februar 2021. Damals hatte Merck nach einer enttäuschenden Phase I das Handtuch geworfen. In dieser Zeit gaben Novavax und Johnson & Johnson jedoch Wirksamkeitsergebnisse von 89  bzw. siebzig Prozent bekannt und stellten Anträge auf Zulassung bei den Arzneimittelbehörden.

RNA-Impfstoffe drei Monate später

Die Ende Juli 2020 von Moderna und Pfizer-Biontech und Ende August von Astrazeneca begonnenen Phase-III-Studien waren auch kein Spaziergang. Eine Woche nach Beginn der Studie in den Vereinigten Staaten musste die britisch-schwedische Gruppe die Studie aufgrund von Fällen neuronaler Nebenwirkungen stoppen. Die FDA bat daraufhin um detailliertere Informationen, einschliesslich über die zehnjährige Erfahrung mit dem von den Oxforder Forschern verwendeten viralen Vektor. Sie erhielt diese Informationen erst nach sechs Wochen. Dies untergrub das Vertrauen der Sachverständigen der FDA und auch der unabhängigen DSMB-Experten, die die Versuche überwachten. Die US-Studie wird erst Ende Oktober wieder aufgenommen, und der DNA-Impfstoff von Astrazeneca wird in Grossbritannien Ende Dezember und in Europa Ende Januar auf der Grundlage der Ergebnisse von parallelen Studien in Grossbritannien, Südafrika und Brasilien zugelassen.

Am 12. September gab Pfizer bekannt, dass es die Zahl der Patienten in seiner Studie auf 44 000 erhöht, obwohl bereits fast alle 30 000 Patienten rekrutiert worden waren. Offiziell sollten damit Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren und immungeschwächte Patienten reingenommen werden. Wahr ist vermutlich, dass Pfizer nicht genügend Patienten rekrutiert hatte, die die ethnische Vielfalt der amerikanischen Bevölkerung repräsentieren (etwa ein Drittel Afroamerikaner, Hispanier und Asiaten). In jedem Fall wird dies das Unternehmen dazu bringen, seine erste Zwischenauswertung ­– 32 mehr infizierte Patienten in der Placebogruppe als in der Impfstoffgruppe – fallen zu lassen, ohne die Ergebnisse zu kommunizieren. Pfizer-Biontech wird seine Ergebnisse, die auf einer Differenz von 94 Fällen beruhen, dann am 9. November bekannt geben. Das entspricht dem Schwellenwert, der für die zweite Zwischenauswertung festgesetzt war. Zu diesem Zeitpunkt konnte Donald Trump die Erfolgsmeldung zu einem Impfstoff nicht mehr vor den Präsidentschaftswahlen bringen. Moderna veröffentlicht seine Ergebnisse eine Woche später (mit 151 Fällen).

Die RNA-Impfstoffe waren zu mehr als neunzig Prozent wirksam. Die FDA wäre schon mit fünfzig Prozent zufrieden gewesen. In den darauffolgenden Wochen erhielten die beiden Gewinner in den Vereinigten Staaten und in Europa eine beschleunigte Zulassung. Dann begann die logistische Herausforderung. Und auch hier wird sich die neue Technologie durchsetzen, obwohl sie teurer ist und eine komplexere Kühlkette erfordert.

Der industrielle Sprint

Die Produktionskapazität wurde nicht erst nach den Ergebnissen der klinischen Versuche erweitert. Da es sich bei der Synthese von mRNA im Wesentlichen um einen chemischen Vorgang handelt, ist keine Zellkultur erforderlich, wie dies bei viralen Vektoren der Fall ist und für die mehr Vorsicht geboten ist. Die Verkapselung von mRNA in Nanopartikeln bleibt jedoch eine Herausforderung. «Es ist nicht dasselbe, zehn Liter in einem Labor zu produzieren oder fünfhundert Liter in einer Fabrik», bemerkt Moncef Slaoui. «Auch wenn die RNA grundsätzlich weniger Infrastruktur benötigt.»

Moderna verfügt aber bereits über die Erfahrung der in Norwood bei Boston errichteten Fabrik (siehe Folge 6). Es wird diese an seinen Produktionspartner, den Schweizer Konzern Lonza, weitergeben. Bei Biontech, das noch nie in dieser Grössenordnung produziert hat, wird der Bulldozer von Pfizer den Ausschlag geben. Und in beiden Fällen mit Hilfe von Warp Speed.

18 Mal wird Warp Speed verschiedene amerikanische Ministerien dazu anhalten, sich auf den Defense Production Act zu berufen, um Vorrang bei der Lieferung von Ausrüstungen und Materialien, insbesondere von Lipiden, zu erhalten. Die Armee hat dann auch den logistischen Transport sichergestellt, indem sie Autobahnen sperrte oder Start- und Landebahnen von Flughäfen sicherte.

Nachdem die USA die Pandemie so schlecht gemeistert hatten (fast 600 000 Tote bis Ende April 2021), gelingt ihnen für die Impfung eine technologische und logistische Hochleistung (mehr als 220 Millionen verabreichte Dosen, im Wesentlichen mit den beiden RNA-Impfstoffen zum selben Zeitpunkt). Moncef Slaoui sieht jedoch noch einen anderen Grund für diesen Durchbruch: «Die Verträge für Vorbestellungen von Warp Speed deckten die gesamte Entwicklung unter der Bedingung ab, dass die ersten hundert Millionen Dosen für die Vereinigten Staaten reserviert sind, mit einer Option auf die folgenden Dosen. Die europäischen Verträge hingegen betrafen nur die Lieferung von Dosen.»

Seit Moncef Slaoui von Warp Speed zurückgetreten ist, aber auf Wunsch der Regierung Biden eine beratende Funktion beibehalten hat, interessiert ihn wieder etwas anderes. Die Nutzung von RNA in Impfstoffen ist erst der Anfang. «Die RNA kündigt eine medizinische Revolution an, die uns mindestens die nächsten zehn Jahre beschäftigen wird.» Die Technologie kann bei fast jeder Krankheit angewendet werden. Angefangen bei Krebs, der die Priorität des Gewinners des Impfstoffwettlaufs ist: Biontech.

Nächste Folge: Was wird der Spitzenreiter Biontech mit seinem Sieg anfangen?

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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