Das musst du wissen

  • Biontech gehört bei der Entwicklung von Corona-Impfstoffen zu den Spitzenreitern.
  • Krebsimpfstoffe sind aber der eigentliche Zweck von Biontech.
  • Den Gewinn aus dem Covid-Impfstoff will Biontech nun in die Krebsforschung investieren.

Im Wettlauf um die Spitzenplätze in der medizinischen Revolution, die sich durch die mRNA-Therapien eröffnet, heissen der Ferrari Moderna und der Mercedes Biontech. Die Frage ist, was der Spitzenreiter Biontech nach seinem Sieg im Wettlauf um den Covid-Impfstoff nun tun wird

Zunächst einmal muss man wissen, dass die Entwicklung dieses Impfstoffs für das deutsche Unternehmen nicht die schwierigste Aufgabe war. Denn ihr Ziel ist, Krebs zu heilen. Alle Krebsarten sind unterschiedlich, und um wirksam zu sein, muss die Behandlung für jeden Patienten individuell angepasst werden können. Die mRNA macht dies möglich. Krebsimpfstoffe sind also der eigentliche Sinn und Zweck von Biontech, das vor 13 Jahren von dem Onkologen Uğur Şahin und der Onkologin Özlem Türeci gegründet wurde.

Der absolute Rekord

Rückblende. Am Samstag, dem 25. Januar 2020, setzt sich Uğur Şahin an seinen Computer. Die Epidemie in China hat noch keinen Namen und die Weltgesundheitsorganisation WHO hat noch nicht den Notstand ausgerufen. Sie wird dies am 30. Januar tun. Vier Tage zuvor waren jedoch die ersten Fälle in den Vereinigten Staaten und am Vortag in Frankreich aufgetreten. Uğur Şahin spürt die Pandemie kommen.

Ugur Sahin und Özlem Türeci.Keystone/DPA/Bernd von Jutrczenka

Uğur Şahin und Özlem Türeci.

Wie andere verfügt auch Sahin über die vollständige Sequenz des Coronavirus, die von den chinesischen Behörden am 12. Januar veröffentlicht wurde. Auf seinem PC entwirft er ein Dutzend Modelle der mRNA, die das Spike-Protein kodiert. Dieses ermöglicht dem Coronavirus, in Zellen einzudringen und sich zu vermehren. Die Biontech-Teams werden später etwa zehn weitere Versionen dieses Moleküls entwickeln, das nach der Impfung für unsere Antikörper und andere weisse Blutkörperchen als Steckbrief gegen Coronaviren dient. Eine dieser Versionen wird dazu führen, dass der erste Impfstoff gegen Covid am 2. Dezember 2020 von der britischen Arzneimittelbehörde zugelassen wird

Zehn Monate! Der absolute Rekord für die Entwicklung einer Therapie. Als die Ergebnisse der klinischen Versuche mit diesem «BNT162b»-Impfstoff acht Tage später im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden, sprach die renommierte Fachzeitschrift von einem «Triumph». Bis heute ist der erfundene Impfstoff der wirksamste. Auch wenn er sich kaum von dem von Moderna unterscheidet.

Krebstumore sind viel komplexer

Als er sich im Januar 2020 an seinen Computer setzte, wusste Uğur Şahin, dass mRNA das Potenzial hat, direkt im Körper ein Protein namens Antigen zu produzieren, das eine Immunreaktion auslösen kann.

Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er mit seiner Frau, der Onkologin Özlem Türeci, und den internationalen und paritätischen Teams (fünfzig Prozent Frauen) bei Biontech an der Entwicklung von synthetischer RNA, die auch das Immunsystem aktivieren kann. Nur dass er dies in einem viel komplexeren Zusammenhang als dem eines Virus tut: dem von Krebstumoren. Der Begriff bösartiger Tumor wird ja nicht umsonst verwendet. Die durch Krebs verursachten Mutationen dienen unter anderem dazu, sich für unsere natürlichen Abwehrkräfte unsichtbar zu machen.

Aus den zahllosen bisherigen Forschungsarbeiten, wusste Uğur Şahin, dass mRNA, die zur Kodierung des Spike-Proteins des Coronavirus benötigt wird, keine Kopie des natürlichen Virus sein darf. Es muss eine verbesserte Version sein.

Weniger hoch dosiert als Moderna

Bei der Entwicklung des Impfstoffs gegen Sars-CoV-2 zeigt sich der Perfektionismus von Uğur Şahin, der seine Position als Professor an der Universität Mainz stets beibehalten hat, in jedem Aspekt der Entwicklung dieses mRNA-Impfstoffs. Denn er und sein Team finden massgebliche Verbesserungsmechanismen, die sich in der Wirksamkeit des Impfstoffs gegen Covid von Biontech niederschlagen. Dies ist zweifellos einer der Gründe, warum die Dosierung dieses Covid-Impfstoffs bei dreissig Mikrogramm pro Dosis liegt, während die von Moderna hundert Mikrogramm beträgt. Wie der Erfinder dieser wichtigen Technologie, Pieter Cullis, mir vorgeschlagen hat, könnte ein weiterer Grund im Unterschied der Lipid-Nanopartikeln liegen, die die mRNAs umhüllen, um sie auf ihrem Weg zu den Zellen zu schützen. Wir werden später auf ihn zurückkommen. Moderna verwendet seine eigene Formel, während Biontech sich mit dem kanadischen Biotech-Unternehmen Acuitas zusammengetan hat.

Modernes Firmengebäude vor blauem Himmel.Wikimedia Commons/Epizentrum

Der Hauptsitz von Biontech in Mainz. (CC BY-SA 4.0)

Uğur Şahins Perfektionismus wird sich auch in der ersten Phase der klinischen Covid-Impfstoffstudie auswirken. Diese wird am 23. April 2020 beginnen und vier Versionen umfassen, um verschiedene Dosierungen und sogar verschiedene Technologien zu vergleichen.

Blicken wir kurz auf diese Daten zurück. 25. Februar: Skizze am Computer. 23. April: erste Injektion bei einem Freiwilligen in Deutschland. Diese «Lichtgeschwindigkeit» – Uğur Şahin hat das Projekt Lightspeed genannt – ist nicht nur charakteristisch für die aussergewöhnliche Geschwindigkeit, mit der mRNA-Impfstoffe entwickelt wurden. Sie ist auch das Ergebnis eines grossen Engagements. Ende Februar stellten die 1000 Beschäftigten von Biontech auf eine Sieben-Tage-Woche um. Der Urlaub wird gestrichen.

Der Pfizer Bulldozer

In diesem Zeitraum verfügt Biontech jedoch weder über Produktionskapazitäten noch über eine Organisation für klinische Versuche, die einer Pandemie gerecht würden. Laut dem Wall Street Journal war es ein Telefonat am 1. März 2020, das die Situation deblockierte. Uğur Şahin sprach mit Kathrin Janssen, der Leiterin der Impfstoffforschung und –entwicklung bei Pfizer. Mit 62 Jahren kann Kathrin Jansen, die Ende der 1980er Jahre am Glaxo-Institut für Molekularbiologie in Genf anfing, zwei grosse Erfolge im Bereich der Impfstoffe vorweisen: Gardasil gegen das Papillomavirus, das sie bei Merck entwickelte, und Prevnar 13, ein Impfstoff gegen Pneumokokken, den sie bei Wyeth entwickelte.

Nachdem Pfizer 2009 Wyeth für 68 Milliarden Dollar gekauft hatte, wurde Prevnar 13 zur Cashcow des Konzerns. Dieser hatte zwar Viagra erfunden, aber besass keine Impfstoffe. Prevnar 13 ist das meistverkaufte Produkt von Pfizer und der meistverkaufte Impfstoff der Welt. Im Jahr 2020 erreichte der Umsatz 5,8 Milliarden Dollar. Natürlich hat Albert Bourla, der Chef von Pfizer, also immer ein offenes Ohr für Kathrin Jansen. Als sie Uğur Şahin bei ihrem Telefonat antwortete: «Ich freue mich, mit Ihnen zu arbeiten», war die Sache deshalb geritzt.

Das Gespräch mit Uğur Şahin wurde wahrscheinlich dadurch erleichtert, dass Kathrin Jansen in Deutschland ausgebildet wurde. Darüber hinaus arbeiten Pfizer und Biontech seit 2018 an der Entwicklung eines RNA-Grippeimpfstoffs, dem einzigen Impfstoff des deutschen Biotech-Unternehmens gegen Infektionskrankheiten.

Nach dem Telefongespräch vom 1. März stellt sich der amerikanische Bulldozer in den Dienst des deutschen Biotech-Unternehmens. Der Pfizer-Chef Bourla beginnt mit dem Unterschreiben von Schecks. Er lehnt die finanzielle Unterstützung der Operation Warp Speed für die klinische Entwicklung des Impfstoffs von Biontech ab und investiert zwei Milliarden Dollar. Noch bevor die ersten Ergebnisse bekannt waren, liess er eine Fabrik in Massachusetts umrüsten, um die Impfstoffe für die klinischen Versuche herzustellen. Er kaufte sogar sieben Maschinen zu je 200 Millionen Dollar, um mRNA in eine Lipidhülle zu verkapseln, damit sie in Massenproduktion hergestellt werden kann. Zu diesem Zeitpunkt war noch nichts sicher.

Im März 2020 begannen die Forscher von Pfizer und Biontech, ihre RNA-Kandidaten aus Tierversuchen einzugrenzen. Am 12. April sind es noch vier. Uğur Şahin beschliesst, sie alle zu testen. Es gab zwei Kandidaten: einen, der ein teilweises, und einen, der ein vollständiges Spike-Protein produzierte. Letzterer wurde am 23. Juli ausgewählt, einen Tag bevor Pfizer sein Dossier für die gross angelegte klinische Studie bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde einreichen sollte. Der Rest ist bekannt.

Scheidung nach amerikanischer Art

Was wir nicht wissen, ist, was Biontech mit diesem Erfolg anfangen wird. Und mit dem gigantischen Geldsegen. Die Entwicklung des Covid-Impfstoffs wird Biontech und seinem Verbündeten Pfizer ein Vermögen einbringen. Wir sprechen von 26 Milliarden Dollar für das Jahr 2021, die sich die beiden Partner je zur Hälfte teilen werden. Mit diesen 13 Milliarden Dollar schreibt Biontech, das seit seiner Gründung rote Zahlen geschrieben hat, sofort schwarze Zahlen. Bis dahin hatte es nur Verluste gemacht, aber allein im ersten Quartal 2020 erzielte das Unternehmen bei einem Umsatz von 2,1 Milliarden Euro einen Gewinn von 1,13 Milliarden Euro. Zudem hat ihm die Pandemie beschert, was fehlte: Fabriken.

In Marburg, nördlich von Frankfurt, kauften sie von Novartis die Behringwerke, die 1904 von Emil von Behring mit dem Geld seines ersten Nobelpreises für Medizin für seine Arbeit über Diphtherie und Tetanus gebaut worden waren. Der Preis für diese Transaktion mit der Schweizer Gruppe wurde nicht bekannt gegeben, aber die Ankündigung erfolgte einige Tage, nachdem Biontech eine Subvention von 375 Millionen Euro erhalten hatte, so dass die Risiken der Übernahme vermutlich minimiert waren. Dieser Standort, der seit dem 10. Februar 2021 in Betrieb ist und 300 Personen beschäftigt, kann 750 Millionen Impfstoffdosen pro Jahr herstellen. Ausserdem hat das Unternehmen angekündigt, bis 2023 mit seinem lokalen Partner Fosun eine Produktionsanlage für mRNA in Singapur und eine weitere in China zu errichten.

Das ist ein Glück für Biontech, denn die Flitterwochen mit Pfizer scheinen vorbei zu sein. In einem Interview mit dem Wall Street Journal vom 23. März 2021 sagte Pfizer-Chef Albert Bourla: «Wir arbeiten gerne mit Biontech zusammen, aber wir müssen nicht mit Biontech zusammenarbeiten. Wir haben unser eigenes Know-how entwickelt.» Pfizer, das bis dahin nur zwei Impfstoffe, mit dem gegen Covid nun drei, besass, hat ebenfalls beschlossen, in diesem Bereich allein weiter zu machen.

Wie ein Raketeneinschlag

In der zivilisierten Welt der pharmazeutischen Industrie ist die Erklärung von Albert Bourla nicht ein einfacher Abbruch der Beziehungen. Es ist eine Bombe. Und diese ist auch ein Hinweis, wie die Zukunft aussehen könnte. Sicherlich wird das Wachstum von Pfizer bei anderen Impfstoffen auf mRNA-Basis die Abhängigkeit von seinen Krebsmedikamenten verringern, die derzeit ein Viertel seines Umsatzes und ein Drittel der Medikamentenkandidaten in seiner Entwicklungspipeline ausmachen.

Die Krebsmedikamente von Pfizer gehören jedoch in die Ära der zweiten medizinischen Revolution, die der rekombinanten Proteine, die durch Gentechnik in Zellkulturen hergestellt werden. Doch die RNA ist dabei, eine dritte medizinische Revolution einzuleiten, als Erstes im Bereich der Krebserkrankungen. Anstatt die Proteine in gentechnisch veränderten Zellkulturen zu züchten, werden sie direkt in den Zellen des Patienten über mRNAs exprimiert, die dem Immunsystem beibringen sollen, die Krebszellen anzugreifen.

Auf diesem Gebiet hat Biontech gegenüber Pfizer, wie fast allen anderen auch, etwa zehn Jahre Vorsprung.

In erster Linie sind sie Ärzte

Um den Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln, hatte Biontech natürlich seine Krebsforschung auf Eis gelegt. Uğur Şahin musste hierfür sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um seinen Verwaltungsrat zu überzeugen. Dieser stand diesem Strategiewechsel ebenso skeptisch gegenüber wie die Verwaltungsräte von Curevac und Moderna. Aber Biontech ist wieder auf Kurs in Richtung Heilung von Krebs. Uğur Şahin hat sich in zahlreichen Interviews sehr deutlich zu diesem Thema geäussert. Der Gewinn aus dem Impfstoff wird es ihm ermöglichen, in diesem Jahr bis zu 850 Millionen Euro in diese Forschung zu investieren. Dies entspricht in einem Jahr der Hälfte dessen, was sie in den letzten zwölf Jahren investiert haben.

Doch, um Uğur Şahins und Özlem Türecis Besessenheit von mRNA gegen Krebs zu verstehen, müssen wir auf ihr bisheriges Leben blicken.

Ugur Sahin und Kati Kariko im Aussenbereich eines Cafes.zVg

Uğur Şahin und Kati Karikó an dem Tag, als sie sich 2013 kennenlernten.

Uğur Şahin wurde 1965 in Iskenderun (Alexandrette), an der Mittelmeerküste der Türkei, geboren. Vier Jahre später zog er nach Deutschland, als sein Vater in einer Ford-Fabrik in der Nähe von Köln zu arbeiten anfing. Özlem Türecis Vater, ein Chirurg, kam zur gleichen Zeit nach Deutschland, um in einem Krankenhaus in der kleinen Stadt Lastrup in der Nähe von Bremen zu arbeiten, wo sie 1967 geboren wurde.

Nach seinem Medizinstudium an der Universität zu Köln folgte Uğur Şahin seinem Doktorvater an das Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg. Und dort schloss Özlem Türeci gerade ihr Medizinstudium ab. Beide sind Onkologen und haben Mitgefühl mit den Familien von Patienten, für die es keine Behandlungsmöglichkeiten mehr gibt. Alle, die mit Uğur Şahin und Özlem Türeci zusammengearbeitet haben und die ich interviewte, sagten, dass sie in erster Linie Ärzte sind. «Sie sind unglaublich aufrichtige Menschen», sagt Sonja Kastilan, Leiterin des Wissenschaftsressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die die beiden mehrfach interviewt hat.

Eine Hochzeit in weissen Kitteln

Auch der Schweizer Nobelpreisträger Rolf Zinkernagel, bei dem sie 2000 und 2001 im Labor am Universitätsspital Zürich arbeiteten, sagte in einem Interview mit der NZZ: «Er ist ein innovativer Wissenschaftler. Und sie ist eine aussergewöhnliche Klinikerin mit grossem Sinn für Unternehmensführung.» Denn für Krebspatienten, die keine Optionen mehr haben, schaffen Uğur Şahin und Özlem Türeci neue Hoffnung. Damals spezialisierte er sich auf die Identifizierung von Krebs-Antigenen, sie auf die Immuntherapie. Und als sie 2002 vom Leiter der Abteilung für Hämatologie und Onkologie an die Johannes-Gutenberg-Universität Mainz eingeladen werden, standen diese beiden eng miteinander verbundenen Bereiche kurz vor dem Durchbruch. Sie verschreiben sich der Sache mit Leib und Seele. So sehr, dass sie im Jahr 2002 nur eine Mittagspause einlegen, um zu heiraten und dann gleich wieder ihre weissen Kittel anziehen.

Diese Spezialisierungen von Uğur Şahin und Özlem Türeci, die bald darauf zu Professoren in Mainz ernannt wurden, sind für das Verständnis der folgenden Ereignisse von wesentlicher Bedeutung. Krebs ist eine Krankheit des Genoms. Sie entsteht durch Mutationen in der DNA als Folge von Kopierfehlern bei der ständigen Erneuerung unserer Zellen. Diese genetischen Mutationen erzeugen natürliche mRNAs, die jedoch fehlerhafte Informationen tragen. Dies führt zur Bildung antigener Proteine (so genannter Neoantigene) auf der Oberfläche der Krebszellen.

Diese Mutationen treten im Laufe unseres Lebens immer wieder auf. In den meisten Fällen werden diese Neoantigene, die auf der Oberfläche normaler Zellen nicht vorhanden sind, vom Immunsystem genauso gut wie Viren oder fremde Mikroben erkannt. Die weissen Blutkörperchen erkennen sie als solche und zerstören sie, so dass der Tumor nicht mehr wachsen kann. Aber diese Zellen sind bösartig. Während sie immer mehr Mutationen durchlaufen, gelingt es ihnen, eine kleine Umgebung zu schaffen, in der sie für das Immunsystem unsichtbar werden.

Die Ära der Antikörper

Die Idee der Immuntherapie zu Anfang der 2000er Jahre bestand darin, die chemischen Mittel und die Radiotherapie, die Krebszellen abtöten, zu ersetzen oder zu ergänzen. Und zwar soll das Immunsystem ersetzt oder dazu gebracht werden, die Neoantigene anzugreifen.

Die ersten Immuntherapien, die Mitte der 1990er Jahre aufkamen, basierten auf monoklonalen Antikörpern. Sie werden in Zellkulturen hergestellt und ahmen die Antikörper nach, die das Immunsystem selbst produziert, um einen gezielten Angriff auszulösen. Bald stellte sich heraus, dass diese Antikörper Tumorzellen erkennen und deren Wachstum blockieren können. Dies ist beispielsweise bei Herceptin von Roche der Fall, das seit 1998 vermarktet wird. Seitdem sind mehr als siebzig monoklonale Antikörper auf den Markt gekommen. Insgesamt beläuft sich ihr Umsatz auf 125 Milliarden Dollar pro Jahr.

Im Jahr 2001 begannen auch Uğur Şahin und Özlem Türeci sich für diesen Weg zu interessieren und gründeten Ganymed Pharmaceuticals. Finanziell unterstützt wird das Paar von den Zwillingsbrüdern Andreas und Thomas Strüngmann, die nach dem Verkauf ihres Generikaherstellers an Novartis für 7 Milliarden Dollar zu Milliardären geworden sind. Ganymed Pharmaceuticals, das einen monoklonalen Antikörper gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs entwickelt hat, wurde 2014 vom japanischen Pharmaunternehmen Astellas für 1,4 Milliarden Dollar gekauft.

Krebsimpfstoffe

Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Immuno-Onkologen jedoch bereits weitergezogen.

Monoklonale Antikörper fokussieren auf ein Antigen, manchmal auch auf zwei, in diesem Fall werden sie bispezifische Antikörper genannt. Auf Krebszellen können diese Neoantigene jedoch zu Dutzenden oder gar Hunderten gezählt werden. Hinzu kommt, dass 95 Prozent der Mutationen bei einem Patienten nicht bei einem anderen Patienten mit derselben Krebsart gefunden werden. Ideal wäre also, die Behandlung für jeden Patienten individuell zu gestalten.

Diese Beobachtung führte zur Gründung von Biontech im Jahr 2008, wiederum mit der Unterstützung der Gebrüder Strüngmann. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagt Uğur Şahin: «Ich wollte herausfinden, welche Strukturen das Immunsystem auf Krebszellen überhaupt erkennen kann. Seit Mitte der 1990er Jahre ist es gelungen, diese Tumorantigene immer effizienter abzubauen.» In den ersten Jahren wird Biontech eine Hochfrequenz-Bioinformatik-Sequenzierungsplattform einrichten, die in der Lage ist, die genetischen Mutationen der Krebserkrankung eines jeden Patienten zu kartieren. Diese Karte, die Uğur Şahin als «Mutanom» bezeichnet, zeigt die Ziele, die das Immunsystem mit Hilfe von mRNA-Impfstoffen zu erkennen lernen wird.

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Zu Anfang untersuchte Uğur Şahin alle möglichen Impfstofftechnologien (zum Beispiel DNA und Peptide) bevor er zu dem Schluss kam, dass Kombinationen von mRNAs effektiver sind, wenn es darum geht, nicht nur eine, sondern mehrere Arten dieser Neoantigene zu produzieren, die genau wie Spike-Proteine dem Immunsystem als Steckbrief dienen.

Fixvac, die wichtigste Technologieplattform von Biontech, entwickelt mRNAs, um aus den Daten jedes Patienten (Mutanome) Tumor-Neoantigene zu produzieren. Diese Impfstoffe werden direkt in so genannte dendritische Zellen eingebracht, die eine Vorläuferrolle bei der Entwicklung der Immunität spielen.

Neue Wege in der Immuntherapie

Uğur Şahin und Özlem Türeci mussten jedoch bis 2017 auf den ersten klinischen Nachweis der Wirksamkeit eines solchen mRNA-Impfstoffs gegen Krebs warten. Dreizehn Patienten mit fortgeschrittenem Melanom erhielten nach Analyse ihrer jeweiligen Mutationen einen Cocktail aus individualisierten mRNAs in ihre Lymphknoten. Die Technologie umfasst auch die Auswahl der Neoantigene, die am ehesten die gewünschte Immunantwort auslösen. Im Falle dieser klinischen Studie war dies mehrheitlich der Fall. Seitdem hat Biontech elf klinische Studien mit 440 Patienten für 17 verschiedene Krebsarten durchgeführt.

Uğur Şahin und Özlem Türeci denken jedoch noch weiter. Jüngste Fortschritte in der Immuntherapie weisen auf weitere mögliche Anwendungen von mRNA gegen Krebserkrankungen hin. So haben der japanische Biologe Tasuku Honjo und der amerikanische Immunologe James Allison gezeigt, dass die weissen Blutkörperchen (T-Lymphozyten), wenn sie mit einer Krebszelle konfrontiert werden, durch eine Art molekulare Bremse (sogenannte «Checkpoints») in Schlaf versetzt werden. Dies bringt ihnen 2018 den Nobelpreis für Medizin ein. Zuvor aber, Anfang der 2010er Jahre, führt das zur Entwicklung einer neuen Art von Antikörpern, die die Wirkung dieser Bremsen (Checkpoint-Inhibitoren) verhindern. Biontech versucht in Zusammenarbeit mit Roche, Impfstoffe gegen Krebs mit solchen Checkpoint-Inhibitoren zu verbinden. Bis heute noch ohne grossen Erfolg. Das ist auch bei Moderna im Rahmen einer Zusammenarbeit mit Merck der Fall.

Der neue Wettlauf

Biontech ist selbstverständlich nicht das einzige Biotech-Unternehmen, das diesen Ansatz verfolgt. Historisch gesehen war es sogar der deutsche Konkurrent Curevac, der die erste klinische Studie mit RNA-Krebsimpfstoffen durchführte – bis heute ohne Erfolg (siehe Folge 5 ). RNA-Impfstoffe gegen Krebs werden derzeit in nicht weniger als 46 klinischen Studien getestet. Es ist also ein neuer Wettlauf für den Mainzer Spitzenreiter.

Biontech profitiert wirklich vom Manna des Covid-Impfstoffs. In einem kürzlichen Interview mit dem europäischen Forschungsmagazin Horizon Europe sprach Özlem Türeci sogar von zwei Jahren bis zur Markteinführung eines ersten Impfstoffs gegen Krebs. Das ist möglich, aber es gibt noch einige offene Fragen. Werden beispielsweise mRNAs in der Lage sein, Antikörper in der Konzentration zu produzieren, die für die gewünschte therapeutische Wirkung erforderlich ist? Oder die Frage, wie man RNA-Impfstoffe mit anderen Therapien kombiniert, wie im Fall der Studie mit Roche.

Auf der Fährte der Autoimmunkrankheiten

Auch wenn Krebs für Biontech Priorität hat, interessiert sich das Unternehmen auch für andere Bereiche. Gemeinsam mit der Universität von Pennsylvania hat sie ein Programm zur Entwicklung von Impfstoffen gegen zehn Infektionskrankheiten gestartet. Anfang 2021 skizzierten die Forscher auch ein neues Anwendungsgebiet für mRNA, nämlich Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose. Und es gibt noch viele andere Möglichkeiten wie Herzerkrankungen und Erbkrankheiten.

Allerdings reicht bei dieser Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten von RNA der Multiplikatoreffekt des Immunsystems nicht mehr aus. Die erforderlichen Dosen werden wahrscheinlich viel höher sein. Ganz zu schweigen davon, dass es selbst bei Impfstoffen einige seltene (aber überraschende) Fälle gab, in denen die RNA an unerwarteten Stellen, zum Beispiel in Herzzellen, exprimiert wurde und dort Entzündungen verursachte.

Die Dosierung und der gezielte Transport von RNAs sind die grossen Herausforderungen der nächsten Jahre. Sie sind die Schlüssel zur dritten medizinischen Revolution.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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