Das musst du wissen

  • Hinter der Technologie der mRNA-Impfstoffe gegen das Coronavirus stecken mehr als 30 Jahre Forschung.
  • Diese beruhen ihrerseits auf ebenso vielen Jahrzehnten grundlegender Entdeckungen.
  • In dieser Zeit gab es unzählige wissenschaftliche Hindernisse und Rechtsstreitigkeiten um Patente.

Du hast oder wirst wahrscheinlich in Kürze eine Injektion eines Covid-19-Impfstoffs erhalten. Wenn du in der Schweiz bist, handelt es sich sicher um einen mRNA-Impfstoff. Anderswo wahrscheinlich auch, denn einerseits mahnen die wenigen Nebenwirkungen der anderen Impfstoffe zur Vorsicht, andererseits ist die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen für eine zukünftige Auffrischungsimpfung schneller und ermöglicht eine bessere Anpassung an die Virusvarianten.

Dass zwischen der Sequenzierung des Coronavirus in China und der Zulassung der ersten beiden RNA-Impfstoffe in den Vereinigten Staaten nur zehn Monate vergingen, wirft einige Fragen auf. Wie konnte es so schnell gehen, wo doch immer behauptet wird, dass es zehn Jahre dauert, einen Impfstoff zu entwickeln? Seit 1980 sind mehr als achtzig neue Viren entdeckt worden. Aber nur drei neue Impfstoffe wurden entwickelt. Was zu einer Nebenfrage führt: Warum wurden diese RNA-Impfstoffe von Firmen entwickelt, von denen nur ein paar kluge Investoren gehört hatten?

Meine unbeantworteten Fragen

Im Februar 2021, nach einem Jahr Covid und vielen Nachhilfekursen in Molekularbiologie, war ich immer noch ohne Antworten auf diese Fragen. Es ist offensichtlich, dass das Wissen, die Technologien und das Know-how, die für RNA-Impfstoffe erforderlich sind, nicht in zehn Monaten entwickelt werden konnten. Also fing ich an, mich in diese Geschichte zu vertiefen. Da ich nur Bruchstücke oder Zusammenfassungen finden konnte, beschloss ich, diejenigen, zu interviewen, die seit mehr als dreissig Jahren zu diesem kollektiven Unterfangen beigetragen haben. Im Laufe dieser Dutzenden von Interviews, die meist per Videokonferenz mit Forschenden in ihren Laboren oder Büros an amerikanischen Universitäten geführt wurden, habe ich noch viele andere Dinge entdeckt.

Erstens: mRNA ist eine Familienangelegenheit. Allerdings gibt es nicht einen Vater oder eine Mutter für diese Impfstoffe. Und wie in allen Familien gibt es Solidarität und Freude, aber auch Streitigkeiten, Zweifel, Eifersüchteleien, Fehler – ganz zu schweigen von Erbschaftsgeschichten, die sich in dieser wettbewerbsorientierten Welt oft um die Frage der Patente drehen.

Zukünftige Nobelpreisträger?

Zudem sind die Mitglieder dieser Familie Aussenseiter. Sicher, einige haben Nobelpreise gewonnen und weitere werden vielleicht noch einen gewinnen. Aber die meisten von ihnen mussten Schläge einstecken und haben unter der Skepsis der wissenschaftlichen Gemeinschaft gelitten. Ihre Artikel wurden von angesehenen Zeitschriften abgelehnt oder ihre Forschung wurde von Pharmaunternehmen schnöde missachtet. Einige haben ihre Karriere aufs Spiel gesetzt, andere Millionen.

Nun ändert sich mit dem weltweiten Siegeszug der mRNA-Impfstoffe alles! Die medizinische Revolution, die sich durch RNA-basierte Technologien anbahnt, verspricht neben Impfstoffen auch Therapien für Krebserkrankungen, Herzkrankheiten, Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder Erbkrankheiten wie die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose. Eine medizinische Goldader, die grosse Schlachten um das geistige Eigentum ankündigt.

Zunächst schlage ich vor, dass du dich auf die Intimität des Lebens einlässt. Und zwar auf das biologische, das diese Wissenschaftler entdeckt haben. Du wirst sehen wie faszinierend das ist, was passiert, sobald das Serum in den Muskel deines Arms gespritzt wird.

Wie die Werke von Calder und Tinguely

Ich persönlich sehe gar eine räumliche Schönheit. Etwas zwischen den logischen und leicht ironischen Abläufen der Maschinen von Jean Tinguely und dem fragilen Gleichgewicht der Mobiles von Alexander Calder. mRNA ist ein Meisterwerk der darwinistischen Evolution. Seine Aufgabe ist es, die in unserer DNA enthaltene genetische Information in eine Vielzahl von Proteinen umzuwandeln, die das Leben unserer Zellen und von dort aus unsere Gewebe und Organe steuern. Hier ist ein Diagramm, um dir dies zu zeigen, aber ich werde meine eigene Erklärung weiter unten fortsetzen.

Schaubild, das die Wirkung von mRNA-Impfungen zeigtAnne Seeger, SCNAT (CC BY 4.0)

Proteine machen so ziemlich alles in unserem Körper. Sie bringen Sauerstoff hierher, Nährstoffe dorthin, sind in Bewegung oder senden Signale. Sie schlagen auch Alarm. Zum Beispiel: «Achtung, wir werden von Viren oder Bakterien angegriffen, wir müssen weisse Blutkörperchen zur Rettung schicken!» Dieses letzte Prinzip ist die Grundlage der Impfung. Es besteht darin, das Immunsystem zu sozusagen zu hacken, das heisst, einen gutartigen Angriff mit neutralisierten oder – im Falle der klassischen Impfstoffe – abgetöteten Viren zu imitieren. Dann sind die Abwehrkräfte bereit, wenn der echte Krieg kommt.

Für Informatiker eine klare Sache

Die Wissenschaftler, die sich mit Bill Gates und Dietmar Hopp, dem Gründer des deutschen Internetriesen SAP, trafen, erzählten mir, dass sie die mRNA, auch Messenger RNA oder Boten-RNA genannt, als das biologische Äquivalent der Software sehen, die sie entwickeln, nämlich ein Code, der programmiert werden kann. Sie haben also in diesen Bereich investiert. Aber die Natur ist brutal: Wenn wir numerische Analogien verwenden, ist die Reise, die die mRNA unternimmt, um dich zu immunisieren, ein bisschen wie das Videospiel Grand Theft Auto.

Stell dir einen Boten vor. Seine Mission ist es, einen Bauplan in eine Werkstatt zu bringen, um ein Molekül herzustellen, das das unheimliche Coronavirus identifizieren wird. Dieser Plan ist auf seinen Körper tätowiert. Etwas über 4000 Zeichen. Das tönt etwas esoterisch, wenn man kein Biologe ist. Der Bote erhielt eine Mütze, um sich auszuweisen, sowie einen Schutzanzug. Denn das Haus, die Zelle, in dem er seinen Plan abliefern muss, befindet sich in einer gefährlichen Gegend. Dort sind 300 Pitbulls, die nur darauf warten, ihn zu verschlingen. In der Sprache der Biologie heissen diese bissigen Wachhunde Ribonukleasen.

Der Bote erreicht nicht immer sein Ziel und darum enthalten Impfstoffe Millionen von mRNA-Boten. Aber wenn ein Bote zum Ziel kommt, ändert sein Anzug die Farbe – eigentlich eine elektrische Ladung, ein Meisterwerk der Biotechnik, wie wir sehen werden –, um die Öffnung der Tür auszulösen. Es kommt noch besser.

Scharfschützen und Deutsche Schäferhunde

Auch das Haus, also die Zelle, ist für unseren Boten noch voller Gefahren. Drinnen stehen andere Rottweiler bereit, um ihn zu verschlingen. Doch da wirkt die Magie seiner Tattoos, die ihn durchlassen wird. Die Hunde bellen, was die Polizei des Immunsystems in Alarmbereitschaft versetzt, aber sie beissen noch nicht. Vor der Werkstatt, den Ribosomen, angekommen, erkennt man unseren Boten an seiner Mütze.

Sein Bauplan wird dann für Fahndungsplakate verwendet, die an die Fenster des Gebäudes gehängt werden. So hat die Polizei, das Immunsystem, nun ein Bild des Coronavirus. Wenn dieses Virus in Umlauf kommt, schicken sie ihre Deutschen Schäferhunde, die Antikörper, und ihre Scharfschützen, die T-Lymphozyten, los, um ihnen den Garaus zu machen. Aber wie gesagt, die Natur ist brutal: Unser Bote wird nach erfüllter Mission den Hunden ausgeliefert. Doch du bist geschützt.

Die Etappen dieses unglaublichen Szenarios wurden in dreissig Jahren Forschung und technologischer Entwicklung, von denen meine Serie erzählt, verstanden und eine nach der anderen erarbeitet.

Also dreissig Jahre, nicht zehn Monate.

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In dieser Zeit gab es unzählige wissenschaftliche Hindernisse und eine Reihe epischer Patentschlachten, sowie auch eine Spur Verachtung von Forschenden, die von einem anderen Molekül, der DNA, besessen waren. Ganz zu schweigen von Zweifeln der Big Pharma, die sich von der Attraktivität der mRNA nicht überzeugen liess. Das ging so bis zum letzten Wettlauf im letzten Jahr. Ich habe dessen Schiedsrichter ausfindig gemacht: Professor Moncef Slaoui, ein in Marokko geborener Forscher, der im Mai 2020 von Donald Trump zum Leiter der amerikanischen Operation Warp Speed ernannt wurde.

Holprige Entstehungsgeschichte

Die Schwierigkeiten überraschten ihn kaum. «Impfstoffe werden in gesunde Menschen gespritzt. Daher braucht man die Dringlichkeit einer Pandemie, um eine neue Impfstofftechnologie einführen zu können», sagt Moncef Slaoui. Auch Edward Jenner, der Impfstoffe im späten 18. Jahrhundert erfand, war gezwungen, seine Pockenexperimente selber zu publizieren. Die Royal Society wollte ihren guten Ruf durch die Veröffentlichung nicht riskieren.

Bei der mRNA hat sich die Geschichte zwar nicht ganz so wiederholt. Aber es wurden ihr zweifellos Steine in den Weg gelegt.

Nächste Folge: Prolog. 1960–1990: Die Beatles-Jahre der mRNA

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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