Susanne Miescher Schwenninger, was macht Ihre Forschungsgruppe?

Wir entwickeln Bakterienkulturen, die auf natürliche Art einen Mehrwert ins Produkt bringen. Weil sie zum Beispiel antimikrobiell wirksam sind, also Hefen oder Schimmelpilze unterdrücken, die zum Verderb des jeweiligen Lebensmittels führen können. Gleichzeitig können die Schimmelpilze auch Giftstoffe bilden, was für unsere Gesundheit schädlich ist. Daneben gibt es auch Bakterien, die Vitamine produzieren, oder Stoffe, die die Struktur von Backwaren oder Sauermilchprodukten verbessern. Das Joghurt kann dadurch zum Beispiel cremiger werden, oder das Brot bleibt länger frisch.

Wie finden Sie solche nützlichen Bakterien?

Ich bezeichne uns gerne als Jäger und Sammler. Wir untersuchen Lebensmittelfermentationen, isolieren einzelne Mikroorganismen und lagern sie bei uns ein – wir haben eine Stammsammlung von 8000 bis 10’000 spezifischen Bakterienkulturen. Diese untersuchen wir nach den Eigenschaften, die schliesslich wieder einen Mehrwert ins Lebensmittel bringen.

ZHAW

Susanne Miescher Schwenninger ist Leiterin der Forschungsgruppe Lebensmittel-Biotechnologie am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil.

Wie funktioniert die Isolation eines einzelnen Bakteriums?

Man nimmt ein fermentiertes Lebensmittel, von dem man weiss, dass es nicht mit Starterkulturen hergestellt wurde, etwa einen natürlich gestarteten Sauerteig. Dieser wird in Zehnerschritten verdünnt und dann auf einem Nährmedium verteilt. Dann bebrütet man diese sogenannten Agarplatten wenige Tage und hat anschliessend die einzelnen Kolonien – erkennbar als kleine Punkte. Davon nehmen wir nach bestimmten Kriterien einige, reinigen sie und haben am Schluss einen einzelnen Mikroorganismus-Stamm. Wir wissen aber noch nicht, welcher das ist. Das heisst, wir können zu diesem Zeitpunkt annehmen, dass es beispielsweise ein Milchsäurebakterium ist, wissen aber nicht welches und was es kann.

Wie geht es dann weiter?

Zur Identifikation verwendet man molekularbiologische Analysen. Wir schauen also bestimmte Gene an und bestimmen ihre Basenabfolge. So erhält man eine Identifizierung. Um herauszufinden, was das Bakterium kann, machen wir sogenannte Screenings: Wir testen möglichst viele Mikroorganismen auf eine gesuchte Eigenschaft, wie Schimmelpilze zu unterdrücken oder Vitamine zu bilden. Später schauen wir, ob das Bakterium die Eigenschaften, die es im Labor gezeigt hat, auch in einem Produkt zum Ausdruck bringen kann.

Wie alt ist die Forschung mit Mikroorganismen im Zusammenhang mit Lebensmitteln?

Lebensmittelfermentationen werden schon seit Jahrtausenden betrieben. Früher waren dies Spontanfermentationen, wie sie beispielsweise bei den Kakaobohnen immer noch stattfinden. Durch die Industrialisierung werden sie aber zunehmend mit der gezielten Zugabe von Starterkulturen beeinflusst.

Damit es schneller geht?

Ja, und damit der Ablauf standardisierter und somit auch sicherer ist. In Afrika gibt es traditionelle Sauermilchprodukte, bei denen die Rohmilch in Eimer gegossen und stehen gelassen wird. Trotz Reinigung ist im Inneren des Eimers noch ein Biofilm des letzten Fermentationsprozesses, wodurch die Milch beimpft wird. Das geschieht spontan und undefiniert – man weiss grundsätzlich nicht genau, was wächst. Das bedeutet, dass das Produkt, das dabei entsteht, unter Umständen nicht immer genau gleich schmeckt. Wenn man hingegen, wie bei uns, die Milch für die Joghurts erhitzt und dann eine Starterkultur hinzugibt, dann wird das Produkt standardisiert und schmeckt jedes Mal gleich. Man ist dann natürlich auch sicher, dass keine unerwünschten Fremdkeime drin sind.

Grossproduzenten wollen vermutlich standardisierte Produkte.

Ja, da die Sicherheit besser gewährleistet werden kann. Daneben gibt es aber zunehmend mehr Kleinproduzenten, die wieder darauf zurückgehen, dass sie traditionell fermentieren, indem sie zwar nicht ganz spontan, aber doch mit Kulturgemischen operieren, bei denen sie nicht genau wissen, was drin ist.

Sie arbeiten nur mit natürlichen Mikroorganismen und nicht mit genetisch veränderten Organismen. Warum?

Bei der Herstellung von genetisch veränderten Organismen nimmt man beispielsweise ein Milchsäurebakterium und integriert in seiner Erbsubstanz das Gen eines anderen Milchsäurebakteriums. Dadurch zwingt man es zum Beispiel, ein bestimmtes Vitamin zu bilden. Die Anwendung solcher genetisch veränderter Organismen ist in der Schweiz nicht zugelassen.

Was für ein Käse!

Vor rund 10’000 Jahren begannen die Menschen, sesshaft zu werden. Ausgehend vom Nahen Osten breiteten sie sich über den Balkan schnell im übrigen Europa aus. Die einstigen Jäger und Sammler erweiterten dank Getreideanbau und Viehzucht ihren Speiseplan beträchtlich und sahen sich endlich in der Lage, für harte Zeiten Vorräte anzulegen.

Seit dieser Zeit nutzt der Mensch die Milchsäuregärung zur Konservierung von Milchprodukten oder von Gemüsen. Unser geliebtes Sauerkraut ist lange haltbar dank einem Verbund von verschiedenen, aber gleichermassen fleissigen Milchsäurebakterien. Durchschnittlich leben 20 Millionen Keime in einem Liter Milch, Milchsäurebakterien gehören aber auch zu den wichtigsten Vertretern in der menschlichen Darmflora.

Diesen Umstand machten sich die Mikrobiologin Christina Agapakis und die Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg zunutze, als sie 2013 für die Ausstellung «Grow Your Own … Life After Nature» in der Science Gallery des Dubliner Trinity Colleges Käse herstellten, und zwar mit Keimen, die sie bei Freiwilligen im Bauchnabel oder zwischen den Zehen gefunden hatten. Was eklig klingt, hat einen ernsthaften Hintergrund: «Obwohl wir seit Tausenden von Jahren Käse herstellen, wissen wir noch nicht viel über die Diversität und das Zusammenspiel der Bakteriengemeinschaften, die es uns erlauben, verschiedene Sorten Käse herzustellen», erklärt Wissenschaftlerin Agapakis. Für die Künstlerin Ginsberg steht die Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten der Biotechnologie im Vordergrund: «Dass eine Technologie umsetzbar ist, rechtfertigt sie noch nicht. Wir müssen herausfinden, wo die ethischen Grenzen liegen.»

Wo begegnet man Ihrer Arbeit beim Einkaufen oder Kochen?

Bei den Milchprodukten der Grossverteiler, bei allen fermentierten Milchprodukten wie Joghurt und Rohmilchkäse. In einem Forschungsprojekt konnten wir einmal eine Schutzkultur für Lebensmittel entwickeln, die mithilft, unerwünschte Hefen und Schimmelpilz zu unterdrücken. Sie findet sich heute unter anderem in manchen Joghurtprodukten. Kürzlich haben wir eine Sauerteigkultur entwickelt, die bald auf den Markt kommt. Oder wir entwickeln Kulturen, die Listerien unterdrücken, eine Bakterienart, die für uns Menschen äusserst gefährlich werden kann, insbesondere für schwangere Frauen.

Ist es realistisch, dass chemische Konservierungsmittel dereinst ganz ersetzt werden?

Das kommt aufs Produkt an. Der von uns entwickelte Sauerteig hat eine antifungale Wirkung, er unterdrückt Schimmelpilze. Dabei erzielen wir fast die gleiche Wirkung wie mit Konservierungsmitteln. Die Frage ist, ob das dem Hersteller genügt oder ob er findet, die Haltbarkeit müsse noch länger sein. In dem Fall wird das Konservierungsmittel reduziert, aber nicht ganz weggelassen.

Wird auch das Verpackungsmaterial von Lebensmitteln mikrobiologisch behandelt?

Ja, man nennt das Active Packaging. Dabei wird die Verpackung zum Beispiel mit einem Konservierungsmittel versehen, das nach und nach ins Produkt abgegeben wird. Diese Substanz muss aber deklariert werden.

Wie testet man solche Entwicklungen?

Wenn wir einen neuen Sauerteig entwickeln, gibt es verschiedene Tests. Wir schauen, ob der Effekt, den wir uns vorgestellt haben, etwa Schimmelpilz zu unterdrücken, tatsächlich auch im Lebensmittel eintritt. Die Backtechnologen testen anschliessend die Eigenschaften des neuen Brotes. Wie gut geht es auf? Wie sind die Poren verteilt? Wie gestaltet sich der Bräunungsverlauf? Am Schluss wird das Brot dann in die Sensorik weitergereicht, wo Degustationen stattfinden.

Und diese Bakterien, die Sie verwenden, stellen nie eine Gefahr für die Konsumenten dar?

Das ist ein wichtiger Punkt. In der Lebensmittelbiotechnologie muss man aufzeigen können, dass die Bakterien, die man verwendet, sicher sind. Dafür müssen wir sie identifizieren und mit der Liste abgleichen, die die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit herausgibt. In dieser sind alle Mikroorganismen aufgelistet, die als sicher gelten. Weiter müssen wir schauen, ob ein Bakterium die Tendenz zu Antibiotikaresistenz hat. Dieses dürfte man selbstverständlich nicht verwenden.

Gibt es bei den verträglichen Bakterien eine Obergrenze, die in einem Produkt nicht überschritten werden darf?

Das ist ebenfalls ein wichtiges Kriterium. Es gibt beispielsweise eine Spezies von Milchsäurebakterien, die lange als sicher galt und vor allem in skandinavischen Ländern eingesetzt wird. Vor etwa 20 Jahren hatte nun eine Frau in Finnland einen Darminfekt. Und die Ärzte konnten nachweisen, dass der Infekt von diesem Bakterium ausgelöst wurde, weil es sich in zu grossen Mengen angesiedelt hatte. Die Frau hatte pro Tag ein halbes Kilo des bakterienhaltigen Produktes zu sich genommen, was sehr viel ist. Hier handelt es sich um einen Einzelfall.

Mit welchen neuen Produkten werden wir in den nächsten Jahren konfrontiert?

Ich bin immer wieder überrascht und freue mich, mit welch spannenden, innovativen Fragen die Industrie auf uns zukommt. Diese sind aber selbstverständlich vertraulich. Was ich aber sagen kann, ist, dass es je länger, je mehr darum geht, Seitenströme der Lebensmittelproduktion, die früher einfach Abfälle waren, nach einer Veredelung mittels Fermentation wieder in den Kreislauf zurückzuführen. Man macht also ein völlig anderes Lebensmittel daraus. Das ist ein spannender Trend.

Gibt es ein Beispiel, das Sie mir verraten dürfen?

Nein, leider nicht. Diese Projekte sind wirklich streng vertraulich.

Ist eine Entwicklung in der Lebensmittelindustrie denkbar, die aus Ihrer Sicht nicht wünschenswert wäre?

Gar nicht wünschenswert wäre, wenn all die vielen traditionellen Produkte, etwa Alpkäse, fermentierte Spezialwürste oder Brotspezialitäten mit Haussauerteigen, industriell hergestellt würden – immer mit der gleichen Starterkultur – und damit immer genau gleich schmecken würden. Eine solche Grossproduktion wäre günstiger, es wäre aber sehr schade, wenn die ganze Aromavielfalt der traditionellen Produkte verschwinden würde.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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